Die Meisterin der schwarzen Kunst
den Weg und bat sie, ihren Bruder dort aufzusuchen.
Nachdenklich ließ Henrika das Schreiben sinken. Wo steckte David nur? Hatte er wirklich geglaubt, sie wolle nichts mehr von ihm wissen, nur weil sie sich über die wiedergewonnenen Verwandten freute? Sie konnte nicht glauben, dass er aufgrund eines Missverständnisses derart beleidigt reagierte.
Auf ihre Frage nach David zuckte die gutmütige Wirtin lediglich die Schultern. Jawohl, der junge Herr sei noch spät in der Stube gesessen und habe über einem Krug Bier gebrütet. Dann über dem nächsten und so weiter, bis seine Augen glasig wurden. Aber gleich nach dem Zapfenstreich habe er sich davongemacht. Wo er jetzt steckte, konnte sie nicht sagen.
«Wie bedauerlich für Euch, gute Frau.» Die Wirtin zeigte sich mitfühlend. «Ihr seid bestimmt noch nicht lange vermählt.»
«Wie kommt Ihr darauf?», fragte Henrika zerstreut.
«Nun, ich kenne doch die Blicke, die ein verliebter Mann einem Mädchen zuwirft. Eurer würde Euch auf Händen tragen und Rosenblätter vor Eure Füße streuen, wenn Ihr das nur zuließet.»
Henrika spürte einen feinen Stich in der Brust. Na wunderbar. Wem sollte sie sich nun zuerst widmen? David, der sich dem Trunke ergab, weil er glaubte, sie liebte ihn nicht mehr, oder dem Flamen, ihrem Onkel, dem sie schon so lange vergeblich nachspürte?
Sie beschloss, sich auf dem Weg zu dem Gutsbesitz nach David umzusehen, hatte damit aber keinen Erfolg. Er war nirgends zu entdecken. Zu ihrer Überraschung öffnete auch im Haus ihrer Tante niemand auf ihr Klopfen. Nachdem sie eine Weile unschlüssig gewartet hatte, streckte einer der Webergesellen, die für Quinten im Nebengebäude arbeiteten, den Kopf aus dem Fenster und erklärte ihr, dass Frau Katharine um diese Zeit oft mit der alten Toetja auf den Markt ginge, um Einkäufe zu tätigen. Von seinem Meister hatte der Mann keine Nachricht erhalten, aber als Henrika ihm Katharines Brief durchs Fenster reichte, bestätigte er, dass es sich um die Handschrift seiner Dienstherrin handelte.
Henrika schulterte ihr Bündel, das sie nicht im Gasthaus hatte zurücklassen wollen, und machte sich auf den Weg. Es war ihr nicht ganz wohl dabei, ohne David die Stadt zu verlassen, aber ihre Tante würde ihm gewiss sagen, wohin sie gegangen war. Sie ließ Wagen und Pferd vor dem Goedmeesterhuis zurück, damit er sie schneller einholen konnte.
Zunächst folgte sie der Straße, die zum Ufer der Schelde führte. Im Gegensatz zu den Gassen rund um den Markt war sie ungepflastert und von zahllosen Radspuren und Hufabdrücken zerfurcht. Dann verließ sie die Stadt durch eines der kleineren Tore und wanderte etwa eine halbe Stunde lang in südlicher Richtung über die Felder. Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt; es fing an zu regnen. Der Boden wurde unter Henrikas Füßen weicher, sodass sie sich vorsehen musste, um im Morast nicht auszugleiten. Ein stürmischer Ostwind blies ihr die Haare ins Gesicht. Henrika band sich ihr Schultertuch um den Kopf, ging jedoch unbeirrt weiter, bis sie schließlich vor einem Wegkreuz stand, unter dem eine Statue der heiligen Jungfrau Maria und einige Kerzenstummel zu sehen waren.
Zögernd blickte sich Henrika um. Geradeaus führte der Weg in ein Laubwäldchen, links durch die Weizenfelder. Rechter Hand lagen ein paar verstreute Bauernkaten und umzäunte Wiesen, doch keines der Häuser hatte Ähnlichkeit mit einem Hofgut. Auch einen See konnte Henrika nicht entdecken.
Sie entschied sich für den Weg durch den Wald und gelangte nach einem strammen Fußmarsch vor eine Mauer mit Pforte, die von Schlehdornhecken und Lorbeerbüschen umgeben war. Die Pforte wurde offensichtlich selten benutzt, denn ihr Holz war von Feuchtigkeit aufgequollen und mit schmierigen, grünlichen Flechten bedeckt.
Da Henrika kein größeres Tor fand, rüttelte sie so lange an der Pforte, bis diese mit einem ächzenden Geräusch aufschwang und ihr den Weg freigab. Kurz darauf stand sie auf einem Hof, um den sich in Hufeisenform ein ansehnliches Haus mit Stallung, Heuschober und verschiedenen Nebengebäuden wanden. Das Gutshaus war größer, als sie erwartet hatte. Es wirkte mit seinen beiden Türmchen, der hohen Mauer und dem Bogentor wie der Landsitz eines Edelmannes.
Die Arme vor der Brust verschränkt, ging Henrika auf das Haus zu, das unbewohnt wirkte. Sie empfand eine Mischung aus Neugier und Beklommenheit. Sie sehnte sich nach David und schalt sich eine ungeduldige Närrin, weil sie so
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