Die Memoiren des Grafen
der Nacht verschwunden? Sie ist doch hoffentlich nicht entführt worden?»
«Keine Sorge, Bill», lächelte Bundle. «Sie hinterließ höchst altmodisch einen Zettel, den sie am Kopfkissen feststeckte.»
«Ist sie mit jemandem davongelaufen? Mit diesem afrikanischen Burschen? Ich mochte den Kerl von Anfang an nicht leiden, und nach allem, was ich jetzt höre, scheint er ja der Oberhochstapler zu sein. Allerdings sehe ich nicht ganz, wie das möglich ist.»
«Warum nicht?»
«Dieser König Victor ist doch Franzose, und Cade ist Engländer durch und durch.»
«Sie haben anscheinend nichts davon gehört, dass König Victor alle möglichen Sprachen gleich gut spricht und außerdem ein halber Ire ist.»
«Du liebe Zeit! Also deshalb hat er sich aus dem Staub gemacht.»
«Ich weiß nichts davon, dass er sich aus dem Staub machte. Er verschwand allerdings gestern, wie Sie wohl wissen. Aber heute Früh erhielten wir ein Telegramm von ihm, in dem er sich für 9 Uhr abends anmeldete und bat, wir möchten den Stockfisch einladen. Auch die übrige Gesellschaft hier ist von ihm zitiert worden.»
«Die reinste Volksversammlung», murrte Bill, indem er sich umsah. «Ein französischer Detektiv beim Fenster, ein englischer neben dem Kamin. Nur das Sternenbanner glänzt durch Abwesenheit.»
«Mr Fish hat sich verflüchtigt», meinte Bundle. «Virginia ist auch nicht da. Aber sonst ist alles versammelt, wir warten nur noch auf Mr Cade.»
«Der wird sich nie zeigen», warf Bill überzeugt ein. «Warum dann diese Versammlung?»
«Dahinter steckt bestimmt etwas ganz anderes, verlassen Sie sich drauf. Er will uns alle hier wissen, während er sich anderswo herumtreibt. Sie kennen doch diesen Trick.»
«Sie glauben also wirklich nicht, dass er kommt?»
«Ausgeschlossen! Warum sollte er denn seinen Kopf freiwillig in den Rachen des Löwen stecken? Das Zimmer ist voll von Polizisten und hohen Tieren.»
«Sie wissen nicht viel über König Victor, wenn Sie glauben, dass er sich dadurch zurückhalten ließe. Das ist genau die Situation, die ihm Vergnügen bereitet. Und er bleibt immer Sieger.»
Bill Eversleigh schüttelte zweifelnd den Kopf.
«Das wäre eine tolle Sache – aber er wird nie –»
Die Tür öffnete sich wiederum, und Tredwell meldete:
«Mr Anthony Cade.»
Anthony ging leichten Schrittes zum Lord hinüber.
«Lord Caterham», entschuldigte er sich, «es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen so viel Mühe mache. Aber ich glaube ganz bestimmt, dass der heutige Abend Ihnen alle Geheimnisse enthüllen wird.»
Lord Caterham wurde weich. Er hatte immer freundschaftliche Gefühle für Anthony empfunden. «Sie haben mir gar keine Mühe bereitet», sagte er herzlich.
«Das beruhigt mich sehr», entgegnete Anthony. «Ich sehe, dass bereits alle hier sind. Somit können wir das gute Werk beginnen.»
«Das geht doch nicht», mischte sich George Lomax großspurig ein. «Die Sache scheint mir ganz ungehörig. Mr Cade hat absolut kein Recht –»
Das Geschwätz des guten George wurde unterbrochen. Inspektor Battle war an seine Seite getreten und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. George schaute verwirrt und verblüfft drein.
«Nun gut, wenn Sie meinen», brummte er halblaut. Dann erklärte er: «Wir werden sehr gern hören, was uns Mr Cade zu sagen hat.»
Anthony überhörte die deutliche Herablassung, die in Ton und Worten lag.
«Ich habe nur eine kleine Idee, das ist alles», lächelte er freundlich. «Wahrscheinlich wissen Sie alle, dass wir vor ein paar Tagen eine chiffrierte Mitteilung erhielten. Es handelte sich um den Namen Richmond und um ein paar Zahlen.» Er hielt inne.
«Nun, wir suchten nach einer Lösung, aber sie war falsch. In den Memoiren des Grafen Stylptitch, die ich gelesen habe, befindet sich ein Hinweis auf ein gewisses Bankett – ein ‹Blumenbankett›, bei dem jeder Anwesende ein Abzeichen in Blumenform trug. Der Graf selbst hatte das genaue Duplikat dieses merkwürdigen Rätselbildes angesteckt, das wir im Geheimgang fanden. Es sollte eine Rose darstellen. Sie werden sich erinnern, dass alles, was wir dort entdeckten, eigentlich Reihen bildete – Reihen von Knöpfen, Reihen von ‹E›s und schließlich auch Reihen einer Strickarbeit. – Nun, meine Herren, was ist hier im Haus in Reihen aufgestellt? Bücher, nicht wahr? Fügen wir noch hinzu, dass sich in der Bibliothek von Lord Caterham ein Buch mit dem Titel ‹Das Leben des Grafen Richmond› befindet, dann dürften wir dem Versteck
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