Diamonds & Rust
Kapitel 1
N ach einer langen und anstrengenden Fahrt hatte Vanessa nun endlich ihr Ziel erreicht. Der Zug war völlig überfüllt gewesen, und da sie sich keine Platzkarte leisten konnte, hatte sie den ganzen Weg gestanden. Auch für ein Taxi hatte ihr Geld nicht ausgereicht, also hatte sie sich zu Fuß auf die Suche nach der Adresse gemacht, die ihre Freundin Nicky ihr auf einen Zettel geschrieben hatte. Das Haus lag am Stadtrand von Morganville, und sie hatte einen längeren Marsch bei hochsommerlichen Temperaturen und mit schwerem Gepäck hinter sich.
Mit einem flauen Gefühl im Magen betrachtete sie das weiß gestrichene Haus, vor dem sie jetzt stand. Es machte einen sehr gepflegten Eindruck, soweit sie das von außen beurteilen konnte. Dennoch klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Bei wildfremden Leuten, weit weg von zu Hause, als Au-pair-Mädchen zu arbeiten – so eine Schnapsidee.
Sicher, nachdem sie sich von Michael getrennt hatte, als sie erfahren hatte, dass er ihre gesamten Ersparnisse mit anderen Frauen verprasst hatte, war es ihr sehnlichster Wunsch gewesen, alles hinter sich zu lassen. Doch nun rutschte ihr das Herz in die Hose, und am liebsten wäre sie auf dem Absatz umgedreht.
Im Stillen verfluchte sie ihre Freundin Nicky, die ihr diesen Job besorgt hatte.
»Eine Bekannte von mir hat einen Freund, der jemanden kennt …«, klang es noch in ihren Ohren, und sie schüttelte den Kopf über sich selbst, dass sie sich auf diesen Schwachsinn eingelassen hatte.
Aber jetzt war sie nun mal hier, und es gab kein Zurück. Einerseits hatte sie so ziemlich ihr letztes Geld für die Fahrkarte ausgegeben, andererseits erwartete man sie doch sicher auch.
»Augen zu und durch«, machte sich Vanessa in Gedanken selbst Mut, und ging auf die Haustür zu.
Auf ihr Läuten hin blieb im Haus alles still, und niemand öffnete.
Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder verärgert sein sollte, und wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als plötzlich ruckartig die Tür aufging und eine ältere Frau sie mürrisch anschaute.
Während Vanessa darauf wartete, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte, musterte sie die Frau unauffällig. Altmodisch gekleidet und mit verkniffenem Gesicht stand diese in der Tür und schien sie ebenfalls abschätzend zu betrachten.
»Wenn das meine Arbeitgeberin ist, dann steh mir bei«, schoss es Vanessa durch den Kopf.
Doch schnell verdrängte sie diesen Gedanken wieder und bemühte sich um ein freundliches Lächeln.
»Guten Tag, mein Name ist Vanessa Strong und ich komme wegen der Arbeit als Au-pair-Mädchen.«
Sie hoffte, dass die Frau das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkt hatte, doch statt einer Antwort trat sie beiseite und machte eine Geste, die Vanessa bedeutete, hereinzukommen. Rasch griff sie nach ihren Koffern und betrat das Haus. Was sie drinnen sah, ließ ihre Aufregung etwas schwinden – nein, das sah nicht nach den Räumlichkeiten einer Mädchenhändler-Bande oder einem zweifelhaften Etablissement aus. Ein großer, lichtdurchfluteter Wohnraum empfing sie, mit angrenzender offener Küche, alles in einem Mix aus modernem und mediterranem Stil gehalten. Bevor sie sich weiter umschauen konnte, trat die Frau zur Treppe und gab ihr ein Zeichen zu folgen. Nach wie vor hatte sie kein Wort gesprochen, und so stapfte Vanessa hinter ihr nach oben. Direkt gegenüber der Treppe öffnete die Frau die Tür zu einem Zimmer, trat beiseite und deutete hinein.
Zögernd trat Vanessa ein, und bevor sie auch nur die Gelegenheit hatte, sich umzusehen oder etwas zu sagen, wurde die Tür hinter ihr mit einem deutlichen Ruck ins Schloss gezogen.
Kopfschüttelnd stellte sie ihre Koffer ab und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
Ihr kurzzeitig gewonnener Optimismus verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Ein altes Metallbett, mit einem Bezug der auch schon bessere Tage gesehen hatte, nahm einen großen Teil des Zimmers ein.
Die Kommode sah aus, als würde sie bei der kleinsten Berührung auseinanderfallen, der Spiegel darüber war trüb.
Wände, Boden und Vorhänge sahen auch nicht vertrauenerweckender aus als der verschlissene Sessel in der Ecke.
Über allem lag ein muffiger Geruch, als wäre hier schon ewig nicht mehr gelüftet worden.
Geschockt setzte sie sich aufs Bett.
Das konnte doch alles nicht wahr sein, wo war sie denn hier hineingeraten? Bestimmt war es nur ein Traum, ein merkwürdiger, schlechter Traum …
Kapitel 2
V anessa
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