Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
auf den Mathematischen Lehrstuhl einer unserer kleineren Universitäten, und vor ihm lag, so schien es, eine äußerst brillante Laufbahn. Aber der Mann besitzt ererbte Neigungen teuflischer Art. In seinem Blut liegen verbrecherische Anlagen, die, anstatt daß sie sich abschwächten, durch seine außergewöhnlichen Geisteskräfte gesteigert und ins unendlich Gefährlichere gelenkt wurden. In der Universitätsstadt machten sich um ihn dunkle Vermutungen breit, und schließlich war er genötigt, seinen Lehrstuhl aufzugeben und in London eine Stelle als Lehrer bei der Armee anzunehmen. Soviel ist der Öffentlichkeit bekannt. Was ich Ihnen nun erzähle, habe ich selber entdeckt.
Sie wissen ja, Watson, daß niemand die Londoner Verbrecherwelt so gut kennt wie ich. Seit Jahren ist mir fortgesetzt bewußt geworden, daß eine Macht hinter dem Übeltäter steht, eine düstere, organisierende Macht, die sich dem Gesetz immer in den Weg stellt und einen Schild über das Böse hält. Wieder und wieder und in Fällen Unterschiedlichstep Art – Fälschungen, Raubüberfälle, Morde – habe ich diese Macht gespürt, und ich habe ihre Aktivität bei vielen der unaufgeklärten Verbrechen, in denen ich nicht zu Rate gezogen worden bin, nachgewiesen. Jahrelang habe ich versucht, den Schleier, der sie umgibt, zu zerreißen, und schließlich kam die Zeit, da ich den Faden in der Hand hielt, ihm folgte und er mich, nach tausend listigen Windungen, zu Ex-Professor Moriarty, der mathematischen Zelebrität, führte.
Er ist der Napoleon des Verbrechens, Watson. Er organisiert die Hälfte von allem Bösen und fast zur Gänze alles, das unentdeckt bleibt in unserer Stadt. Er ist ein Genie, ein Philosoph, ein abstrakter Denker. Er verfügt über einen erstklassigen Verstand. Er sitzt bewegungslos wie eine Spinne im Zentrum ihres Netzes, und dieses Netz hat tausend Fäden, und er verspürt jedes Zittern der Fäden. Er selbst unternimmt wenig. Er plant nur. Aber er hat viele Agenten, und sie sind glänzend organisiert. Soll ein Verbrechen begangen, zum Beispiel ein Dokument entwendet, ein Haus überfallen, ein Mann aus dem Weg geräumt werden – man wendet sich an den Professor, und die Sache wird eingefädelt und ausgeführt. Der Agent kann verhaftet werden. In dem Fall findet sich Geld für eine Kaution oder einen Verteidiger. Aber die Macht im Zentrum, die den Agenten benutzt, wird nie gefaßt – nie jedenfalls als ein der Tat Verdächtiger. Das war die Organisation, die ich verfolgt habe, Watson, und auf die ich meine ganze Kraft wandte, um sie zu entdecken und zu zerschlagen.
Aber der Professor ist mit so schlau erdachten Sicherungen abgeschirmt, daß es – ich mochte anstellen, was ich wollte – unmöglich schien, Beweise in die Hand zu bekommen, die ihn vor einem Gericht hätten überführen können. Sie kennen meine Fähigkeiten, Watson, und doch mußte ich nach drei Monaten eingestehen, daß ich auf einen Gegner getroffen war, der mir geistig gewachsen ist. Mein Entsetzen über seine Verbrechen ertrank in meiner Bewunderung für seine Geschicklichkeit. Doch endlich machte er einen Fehltritt – nur einen kleinen, einen ganz kleinen Fehltritt, aber es war mehr, als er sich erlauben konnte, da ich ihm so hart auf den Fersen war. Ich hatte meine Chance und wob, von diesem einen Punkt ausgehend, ein Netz um ihn, das jetzt zusammengezogen werden soll. In drei Tagen, also am nächsten Montag, ist die Sache reif, und der Professor mitsamt den führenden Mitgliedern seiner Bande wird sich in Händen der Polizei befinden. Dann wird das größte Kriminalgerichtsverfahren des Jahrhunderts folgen, die Aufklärung von über vierzig dunklen Verbrechen – und der Strick wird sie alle erwarten. Doch wenn wir uns zu früh rühren, könnten sie sogar noch im letzten Moment entkommen.
Wenn ich das Ganze hätte einrichten können, ohne daß Professor Moriarty davon erfuhr, wäre alles gut gewesen. Er beobachtete jeden Schritt, den ich unternahm, als ich mein Garn um ihn spann. Immer wieder bemühte er sich, auszubrechen, und immer wieder schnitt ich ihm den Weg ab. Ich sage Ihnen, mein Freund, wenn eine ausführliche Darstellung dieses stillen Kampfes geschrieben werden könnte, sie wäre das brillanteste Stück Räuber-und-Gendarm-Literatur in der Geschichte der Ermittlungen. Nie habe ich mich so erhoben gefühlt, nie aber bin ich auch von einem Gegner so hart bedrängt worden. Er setzte zu einem Tiefschlag an, doch ich parierte
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