Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
die Glocke lenkte, und die reichten gerade aus, um dem Dieb Zeit zur Flucht zu geben.
Mit dem nächsten Zug fuhr er nach Woking, und nachdem er seine Beute näher betrachtet und sich versichert hatte, daß sie wirklich riesigen Wert besaß, verbarg er sie an einer Stelle, die er für sehr sicher hielt, in der Absicht, sie nach wenigen Tagen hervorzuholen, um sie in die französische Botschaft oder sonstwohin zu bringen, wo man ihm, wie er dachte, einen hohen Preis zahlen würde. Dann kehrten Sie plötzlich zurück, und er wurde ohne Vorwarnung umquartiert, und seitdem hielten sich immer mindestens zwei Personen in dem Zimmer auf, was verhinderte, daß er an seinen Schatz gelangte. Diese Situation muß ihn wahnsinnig gemacht haben. Doch schließlich glaubte er seine Chance gekommen. Er versuchte die Papiere zu stehlen, fand aber seine Absicht, weil Sie nicht schliefen, durchkreuzt – Sie erinnern sich, daß Sie an jenem Abend den gewohnten Schlaftrunk nicht genommen hatten.«
»Ich erinnere mich.«
»Ich vermute, er hatte Vorkehrungen getroffen, diesen Trank wirksamer zu machen, und sich ganz darauf verlassen, daß Sie bewußtlos wären. Selbstverständlich war ich mir bewußt, daß er den Versuch wiederholen würde, sobald er unter sicheren Bedingungen unternommen werden konnte. Ihre Abreise gab ihm die Gelegenheit, auf die er wartete. Ich brachte Miss Harrison dazu, den ganzen Tag über in dem Zimmer zu bleiben, so daß er uns nicht zuvorkommen konnte. Dann, nachdem er den Eindruck haben mußte, die Luft sei rein, bezog ich Wache, wie ich es beschrieben habe. Ich wußte bereits, daß die Papiere sich wahrscheinlich in dem Zimmer befanden, aber ich hatte keine Lust, auf der Suche nach ihnen die Dielen und die Scheuerleisten herauszureißen. Deshalb ließ ich ihn sie aus dem Versteck herausholen und ersparte mir so unendliche Mühen. Gibt es noch etwas, das ich erklären sollte?«
»Warum hat er es beim erstenmal durchs Fenster versucht«, fragte ich, »da er doch durch die Tür hätte kommen können?«
»Auf dem Weg zur Tür hätte er an sieben Schlafzimmern vorüber müssen. Dagegen konnte er mit Leichtigkeit auf den Rasen gelangen. Noch etwas?«
»Denken Sie nicht auch, daß er keine mörderischen Absichten hegte? Das Messer in seiner Hand war nur als Werkzeug gedacht.«
»Vielleicht haben Sie recht«, antwortete Holmes und zuckte die Achseln. »Ich kann nur mit Sicherheit sagen, daß Mr. Joseph Harrison ein Gentleman ist, dessen Gnade ich höchst widerwillig vertrauen würde.«
Sein letzter Fall
Schweren Herzens nehme ich die Feder zur Hand, um diese Worte niederzuschreiben, mit denen ich ein letztes Mal von den einzigartigen Gaben, die meinen Freund Sherlock Holmes auszeichneten, berichten will. Unzusammenhängend und – wie ich tief empfinde – völlig unzureichend habe ich versucht, von meinen seltsamen Erlebnissen an seiner Seite Rechenschaft abzulegen, angefangen bei dem Zufall, der uns zur Zeit des Falls ›Späte Rache‹ vereinte, bis hin zu seinem Eingreifen in die Geschehnisse um das Marineabkommen, das mit dem unbestreitbaren Ergebnis der Verhinderung einer schwerwiegenden internationalen Komplikation endete. Eigentlich war es meine Absicht, mit dieser Episode aufzuhören und nichts von dem Ereignis zu berichten, das eine Lücke in meinem Leben riß, die sich in den beiden letztvergangenen Jahren kaum ausfüllen ließ. Aber die kürzlich erschienenen Briefe, in denen Colonel James Moriarty das Andenken seines Bruders verteidigt, zwingen mir die Feder in die Hand. Mir bleibt keine andere Wahl, als die Tatsachen der Öffentlichkeit so vorzulegen, wie sie sind. Ich allein kenne die ganze Wahrheit in dieser Angelegenheit, und es erfüllt mich mit Genugtuung, daß jetzt die Zeit gekommen ist, sie nicht länger zu verschweigen. Soviel ich weiß, gelangten nur drei Mitteilungen an die Öffentlichkeit: das, was das ›Journal de Genève‹ am 6. Mai 1891 brachte, die Reuter-Depesche in den englischen Zeitungen vom 7. Mai und schließlich die vor kurzem erschienenen Briefe, auf die ich mich bereits bezog. Die erste und die zweite Meldung waren äußerst knapp gehalten, während die letzte, wie ich hier beweisen werde, eine völlige Verdrehung der Tatsachen darstellt. Es liegt bei mir, zum ersten Mal zu erzählen, was sich wirklich zwischen Professor Moriarty und Sherlock Holmes zugetragen hat.
Es sei daran erinnert, daß sich die sehr engen Beziehungen zwischen
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