Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Jetzt erhebt sich die Frage, ob wir hier vor der Zeit frühstücken oder die Chance wahrnehmen sollen, zu hungern, bis wir es uns in der Bahnhofsgaststätte von Newhaven gemütlicher machen können.«
In der folgenden Nacht kamen wir in Brüssel an, wo wir zwei Tage blieben; am dritten Tag erreichten wir Straßburg. Montag morgen telegraphierte Holmes an die Londoner Polizei, und abends erwartete uns eine Antwort im Hotel. Holmes riß den Umschlag auf und warf dann das Blatt mit einem bösen Fluch ins Kaminfeuer.
»Ich hätte es wissen müssen!« stöhnte er. »Er ist entwischt.«
»Moriarty!«
»Sie haben alle Bandenmitglieder festgenommen, nur ihn nicht. Er ist ihnen entkommen. Natürlich konnte sich keiner mehr mit ihm messen, nachdem ich außer Landes war. Aber ich hatte angenommen, nun hätten sie durch mich das Spiel ganz in ihrer Hand. Für Sie, Watson, wäre es am besten, Sie reisten nach England zurück.«
»Warum?«
»Ich bin ab jetzt ein gefährlicher Begleiter. Das Gewerbe des Mannes ist ruiniert. Sowie er sich wieder nach London begibt, ist er verloren. Wenn ich seinen Charakter recht deute, dann wird er seine ganze Kraft daran wenden, sich an mir zu rächen. Bei unserer kurzen Unterhaltung hat er ja so etwas gesagt, und ich glaube, daß er es ernst gemeint hat. Ich würde Ihnen auf jeden Fall empfehlen, zu Ihrer Praxis zurückzukehren.«
Dieses Ansinnen hatte wenig Aussicht auf Erfolg bei einem alten Mitstreiter und Freund. Wir saßen in Straßburg in einer salle-à-manger und debattierten die Frage eine halbe Stunde; aber noch am selben Abend nahmen wir unsere Reise wieder auf und fuhren geradewegs nach Genf.
Eine zauberhafte Woche lang durchwanderten wir das Tal der Rhône, und dann, nachdem wir bei Leuk abgebogen waren, ging es weiter über den noch tief verschneiten Gemmi-Paß, und wir kamen via Interlaken nach Meiringen. Es war eine wunderschöne Tour: unter uns das köstliche Grün des Frühlings, über uns das jungfräuliche Weiß des Winters. Dennoch wußte ich genau, daß mein Gefährte nicht für einen Augenblick den Schatten vergaß, der über ihm lag. In gemütlichen Alpendörfern oder auf einsamen Bergeshöhen bemerkte ich an einem schnellen Blick oder an der Art, wie er die Gesichter Vorübergehender musterte, daß er sich wohl bewußt war, er könne der Gefahr, die unseren Fußspuren folgte, nicht entrinnen, ganz gleich, wohin wir gingen.
Einmal, erinnere ich mich, wir hatten den Gemmi überstiegen und spazierten am Ufer des melancholischen Daubensees einher, stürzte ein großer Felsbrocken, von einer Kuppe zu unserer Rechten heruntergebrochen, hinter uns mit Getö se in den See. Sofort rannte Holmes den Berg hinan und drehte den Kopf in alle Richtungen, als er die luftige Höhe gewonnen hatte. Vergebens versicherte ihm unser Bergführer, daß Steinschläge in dieser Jahreszeit und an diesem Ort häufig niedergingen. Er sagte nichts, lächelte mir nur zu wie jemand, der das Eintreffen von etwas bestätigt sieht, das er erwartet hat.
Doch trotz seiner Wachsamkeit fand ich ihn nie niedergedrückt. Ganz im Gegenteil, ich kann mich nicht entsinnen, ihn jemals in solch überschwenglicher Stimmung erlebt zu haben. Immer wieder begann er davon zu sprechen, daß er, wenn er sicher sein könne, die Gesellschaft sei von Professor Moriarty befreit, mit Freuden seine Laufbahn beenden wolle.
»Ich denke, ich kann soweit gehen, Watson, zu sagen, daß ich dann nicht ganz vergebens gelebt habe«, stellte er fest. »Ich würde es mit Gleichmut ertragen, wenn sogar heute abend schon mein persönliches Register seinen Abschluß fände. Die Luft Londons wäre mir desto süßer. In über tausend Fällen, so weiß ich sicher, habe ich meine Gaben nie auf der falschen Seite eingesetzt. In der letzten Zeit war ich zunehmend versucht, mich eher mit den Fragen, die die Natur aufwirft, zu beschäftigen, als mit jenen oberflächlicheren, die dem künstlichen Zustand unserer Gesellschaft entspringen. Ihre Memoiren, Watson, werden an dem Tag abschließen, wo ich meine Laufbahn durch die Verhaftung oder mit dem Auslöschen des gefährlichsten und fähigsten Verbrechers Europas kröne.«
Das wenige, das mir noch zu erzählen übrigbleibt, will ich kurz und doch exakt wiedergeben. Es ist kein Thema, bei dem ich gern verweilte, dennoch bin ich mir der Pflicht bewußt, keine Einzelheit unterschlagen zu dürfen.
Es war am 3. Mai, als wir im Dorf Meiringen
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