1037 - Zurück aus dem Jenseits
»Ich bin gestorben, damit du leben kannst…«
Jamina wußte Bescheid. Marianne wollte ihr unbedingt etwas mitteilen. Sie hatte dabei den langen Weg der Qual eingeschlagen, um das Wahrnehmungsvermögen der Dienerin zu intensivieren. Was sie jetzt sagte und mitteilte, würde Jamina nicht vergessen, denn es würde sich bei ihr zu einem Credo aufbauen.
»Sie werden dich besuchen wollen. Du wirst sie erkennen, und du wirst in ihnen Feinde sehen. Hüte dich vor ihnen. Hüte dich besonders vor der Frau mit den roten Haaren. Sie ist wie ich und trotzdem anders, denn sie weiß Bescheid. Eine Eingeweihte, die mich entdeckt hat, weil ihr eben ein Blick in die Vergangenheit gelungen ist. Wenn sie kommt, sei auf der Hut. Sie wird nicht allein sein und jemand mitbringen. Du mußt ihn aus dem Weg schaffen. Wie du das machst, bleibt dir überlassen. Für dich muß die Frau wichtig sein, denn sie darf ihr Ziel einfach nicht erreichen. Ich werde dich nicht immer unterstützen können, denn ich muß vorsichtig sein. Laß dir auf keinen Fall anmerken, daß du Bescheid weißt. Empfange die beiden wie deine anderen Gäste auch, denn sie werden ihre Absichten zunächst verbergen. Geh auf das Spiel ein, aber laß es dir nie aus den Händen nehmen. Schalte den Mann aus, dann bist du mit der Frau allein und weißt mich als Deckung in deinem Rücken. Du hast Zeit. Der Tag liegt noch vor dir. Er ist ebenso wichtig wie die Nacht. Möglicherweise ist sie noch wichtiger, denn ihre Stunden können den anderen den Tod und dir den Sieg bringen…«
Die Stimme verwehte, aber Jamina hatte jedes einzelne Wort verstanden und auch behalten. Es hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, den sie wußte sehr gut, daß die längst verbrannte Hexe nicht gelogen hatte. Sie wußte mehr als die Menschen, denn es gab noch ihren Geist, dem das Feuer nichts hatte anhaben können.
Allmählich kehrte ihre normale Welt wieder zurück. Mit geöffneten Augen lag Jamina auf dem Rücken und merkte dabei, wie die Decke, die Wände, das Bett, die Fenster wieder um sie herum zusammentrafen wie von geisterhaften Händen geschoben.
Die Realität bildete sich zurück. Der Wachtraum verschwand, und auch in der Kugel löste sich das Bild der Hexe allmählich auf. Das Gesicht verlor an Dichte. Aus dem Innern entstanden die Schatten, die sich zuerst ausbreiteten, um wenig später zu verschwinden. Zur gleichen Zeit verblaßte das Auge. Es verlor seine Intensität und damit auch seine Macht über die Frau.
Jamina hörte sich wieder atmen. Ein heftiges Geräusch, das sie zuvor nicht wahrgenommen hatte. Erst jetzt nahm sie den weichen Gegendruck des Oberbetts wahr und sah auch das weiße Licht der Oktobersonne, die durch die Fenster schien.
Sie richtete sich auf. Es dauerte eine Weile, bis sie die sitzende Haltung erreicht und den Schwindel überwunden hatte, der stets nach den spektakulären Begegnungen auftrat. Die Vorgänge waren nicht neu, und sie hatte sich längst daran gewöhnt.
Mit der rechten Hand wischte sie über die Stirn, wo der Schweiß, eine feuchte Spur hinterlassen hatte. Der Boden, auf den sie schaute, zitterte noch leicht nach, aber die Bohlen zeigten keine Lücken oder dunkle Flecken mehr. Sie fügten sich wieder zu einem Ganzen zusammen, auf dem sich die Frau normal bewegen konnte.
Jamina stand auf. Die Kugel stellte sie auf ihr Bett. Mit kleinen Schritten ging sie auf ein Fenster zu. Dabei trat sie aus einer schattigen Zone weg hinein in das Licht der Sonne. Es umschmeichelte ihren Körper, und es drang durch den hauchdünnen Stoff des offenen Morgenmantels, den Jamina über ihre Schultern geworfen hatte. Ansonsten war sie nackt. Ihr heller Körper schien mit dem Sonnenlicht wetteifern zu wollen, und es sah sogar so aus, als sollte er sich im Licht der hellen Sonne einfach auflösen.
Jamina blieb vor der Scheibe stehen. Sie schaute nach draußen. Es war ein wunderschöner und auch warmer Herbstmorgen, als wollte der Sommer noch einmal beweisen, zu was er fähig war. Die Kühle des Morgens war verschwunden oder hielt sich nur noch an den schattigen Bergflanken. In der Höhe jedoch strahlte das Licht gegen die mächtigen Grate und Gipfel der Oberstdorfer Bergwelt, als wollte es die Felsen durch die helle Kraft sprengen.
Es war ein imposantes Bild, das auf Besucher immer wieder großen Eindruck machte. Jamina nahm es kaum wahr. Sie kannte die Gegend, denn sie gehörte zu ihrem Alltag.
Besucher…
Dieses eine Wort wollte ihr nicht aus dem Kopf. Sie war vor
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