Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Die meiste Zeit über ließ er sie links liegen - was genau genommen eine größere Aufmerksamkeit war, als er sie Junipa zuteil werden ließ: Sie schien für ihn überhaupt nicht zu existieren.
    Insgeheim fragte sich Merle, warum sich Arcimboldo gerade den aufsässigen Dario als Lehrling ins Haus geholt hatte. Damit aber drängte sich auch die unangenehme Frage auf, was er an ihr gefunden hatte, und darauf war ihr bislang keine Antwort eingefallen. Junipa mochte ein ideales Versuchsobjekt für sein Experiment mit den Spiegelscherben sein - die Mädchen hatten mittlerweile erfahren, dass er dergleichen niemals zuvor gewagt hatte - , doch was war es, was ihn veranlasst hatte, Merle im Waisenhaus auszulösen? Er war ihr nie begegnet und musste sich gänzlich auf das verlassen haben, was die Aufseher über sie zu berichten wussten - und Merle bezweifelte, dass Arcimboldo dabei allzu viel Gutes zu hören bekommen hatte. Im Heim hatte man sie für aufmüpfig und rotznasig gehalten, Wörter, die im Vokabular der Aufseher für wissbegierig und selbstbewusst standen.
    Was die beiden anderen Lehrjungen anging, so waren sie nur ein Jahr älter als Merle. Der eine, ein bleichhäutiger, rothaariger Junge, trug den Namen Tiziano, der andere - schmächtiger und mit einer leichten Hasenscharte - hieß Boro. Die zwei schienen es zu genießen, endlich nicht mehr die Jüngsten zu sein und Merle herumscheuchen zu können, obgleich dies nie in Gemeinheiten ausartete. Wenn sie sahen, dass die angefallene Arbeit zu viel wurde, halfen sie bereitwillig, ohne sich erst bitten zu lassen. Junipa dagegen schien ihnen unheimlich zu sein, besonders Boro machte lieber einen Bogen um sie. Die Jungen akzeptierten Dario als ihren Anführer. Sie waren ihm nicht hündisch ergeben, wie Merle es von Banden im Waisenhaus kannte, blickten aber merklich zu ihm auf. Immerhin ging er bereits ein Jahr länger bei Arcimboldo in die Lehre als die beiden.
    Nach etwa anderthalb Wochen, kurz vor Mitternacht, beobachtete Merle zum zweiten Mal, wie Unke hinab in den Brunnen stieg. Sie erwog kurz, Junipa aufzuwecken, entschied sich dann aber dagegen. Eine Weile stand sie reglos am Fenster und starrte auf den Zisternendeckel, dann legte sie sich unruhig zurück ins Bett.
    Schon an einem der ersten Abende im Haus hatte sie Junipa von ihrer Entdeckung erzählt.
    »Und sie ist wirklich in die Zisterne geklettert?«, hatte Junipa gefragt.
    »Wenn ich’s dir doch sage!«
    »Vielleicht war das Seil vom Wassereimer abgerissen.«
    »Würdest du mitten in der Nacht in einen stockdunklen Brunnen steigen, nur weil irgendein Seil gerissen ist? Wäre es wirklich so gewesen, hätte sie das tagsüber erledigen können. Außerdem wäre dann eine von uns geschickt worden.« Merle schüttelte entschieden den Kopf. »Sie hatte nicht einmal eine Lampe dabei.«
    Junipas Spiegelaugen reflektierten den Mondschein, der an jenem Abend zum Fenster hereinfiel. Es sah aus, als glühten sie in weißem, eisigem Licht. Wie so oft musste Merle ein Schaudern unterdrücken. Manchmal hatte sie in solchen Momenten das Gefühl, dass Junipa mit ihren neuen Augen mehr sah als nur die Oberfläche der Menschen und Dinge - fast so, als könnte sie direkt in Merles Innerstes blicken.
    »Hast du Angst vor Unke?«, fragte Junipa.
    Merle überlegte kurz. »Nein. Aber du musst doch zugeben, dass sie seltsam ist.«
    »Vielleicht wären wir das alle, wenn wir eine Maske tragen müssten.«
    »Und warum trägt sie die überhaupt? Keiner außer Arcimboldo scheint es zu wissen. Sogar Dario hab ich gefragt.«
    »Vielleicht fragst du einfach mal sie selbst.«
    »Das wäre unhöflich, falls es wirklich eine Krankheit ist.«
    »Was denn sonst?«
    Merle schwieg. Sie hatte sich diese Frage oft gestellt. Sie hatte eine Vermutung, ganz vage nur; seit sie ihr einmal in den Sinn gekommen war, ging sie ihr nicht mehr aus dem Kopf. Trotzdem hielt sie es für besser, Junipa nichts davon zu erzählen.
    Seit jenem Abend hatten Merle und Junipa nicht mehr über Unke gesprochen. Es gab so viel anderes zu bereden, so viele neue Eindrücke, Entdeckungen, Herausforderungen. Vor allem für Junipa, deren Sehkraft sich rasch verbesserte, war jeder Tag ein neues Abenteuer. Merle beneidete sie ein wenig um die Leichtigkeit, mit der sie sich für die kleinsten Dinge begeistern konnte; zugleich aber freute sie sich mit ihr über die unverhoffte Heilung.
    Am Morgen nach jener Nacht, in der Merle zum zweiten Mal Unkes Abstieg in den Brunnen

Weitere Kostenlose Bücher