Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
beobachtet hatte, geschah etwas, das ihre Gedanken erneut vom heimlichen Treiben der Haushälterin ablenkte.
Es kam zum ersten Zusammentreffen mit den Lehrlingen vom anderen Kanalufer, den Schülern des Webermeisters Umberto.
Während der elf Tage, die Merle nun bereits im Haus des Spiegelmachers lebte, hatte sie die Weberei auf der anderen Seite beinahe vergessen. Vom berüchtigten Streit der beiden Meister, der einst ganz Venedig beschäftigt hatte, war nichts zu spüren gewesen. Merle hatte das Haus in dieser Zeit kein einziges Mal verlassen. Ihr Alltag spielte sich vor allem in der Werkstatt, den angrenzenden Lagerräumen, im Speiseraum und in ihrem Zimmer ab. Hin und wieder musste einer der Lehrlinge Unke auf ihrem Weg zum Gemüsemarkt am Rio San Barnabo begleiten, doch bislang war dabei die Wahl der Haushälterin stets auf einen der Jungen gefallen; sie waren größer und konnten mühelos die schweren Kisten schleppen.
So traf es Merle völlig unvorbereitet, als sich die Schüler vom anderen Kanalufer mit Nachdruck in Erinnerung riefen. Wie sie später erfuhr, war es seit vielen Jahren unter den Lehrlingen beider Häuser Tradition, sich gegenseitig Streiche zu spielen, die nicht selten mit zerbrochenen Scheiben, fluchenden Meistern, blauen Flecken und Schürfwunden endeten. Die letzte dieser Attacken lag drei Wochen zurück und ging auf das Konto von Dario, Boro und Tiziano. Der Gegenschlag der Weberjungen war demnach längst überfällig gewesen.
Merle erfuhr nicht, weshalb sie sich gerade diesen Morgen ausgesucht hatten, und sie war auch nicht sicher, wie ihre Gegner ins Haus gelangt waren - wenngleich sich später der Verdacht erhärtete, dass sie ein Brett von einer Balkonbrüstung zur anderen über den Kanal geschoben hatten und so zur Seite der Spiegelmacher balanciert waren. Dass sich all dies am hellen Vormittag, also während der Arbeitszeit, abspielte, war ein Hinweis darauf, dass es mit dem Segen Umbertos geschah, so wie frühere Übergriffe Darios und der anderen in Übereinstimmung mit Arcimboldo stattgefunden hatten.
Merle war gerade dabei, den Holzrahmen eines Spiegels zu verleimen, als am Eingang der Werkstatt Gepolter ertönte. Erschrocken blickte sie auf: Sie fürchtete, Junipa sei über ein Werkzeug gestolpert.
Doch es war nicht Junipa. Eine kleine Gestalt war auf einem Schraubenzieher ausgerutscht und kämpfte taumelnd um ihr Gleichgewicht. Sie verbarg ihr Gesicht hinter einer Bärenmaske aus glasiertem Papier. Mit einer Hand ruderte sie wild in der Luft, während der Farbbeutel, den sie in der anderen gehalten hatte, als blauer Stern auf den Fliesen zerplatzte.
» Weber!«, brüllte Tiziano, ließ von seiner Arbeit ab und sprang auf.
»Weber! Weber!«, nahm Boro in einer anderen Ecke der Werkstatt den Ruf seines Freundes auf, und bald schon polterte auch Dario herbei.
Merle erhob sich irritiert von ihrem Platz. Ihr Blick geisterte ziellos durch den Raum. Sie verstand nicht, was vor sich ging, denn noch hatte ihr keiner vom Wettstreit der Lehrlinge erzählt.
Der Maskierte am Eingang rutschte auf seiner eigenen Farbe aus und knallte auf den Hosenboden. Bevor Dario und die anderen ihn auslachen oder gar auf ihn losgehen konnten, tauchten im Korridor schon drei weitere Jungen auf, alle mit bunten Papiermasken. Eine fiel Merle besonders ins Auge: Sie war das Antlitz eines edlen Fabeltiers, halb Mensch, halb Vogel. Der lange, gebogene Schnabel war golden lackiert, und in den aufgemalten Augenbrauen glitzerten winzige Glassteine.
Merle kam nicht dazu, auch die anderen Masken zu betrachten, denn schon flog ein ganzes Geschwader von Farbbeuteln in ihre Richtung. Einer platzte vor ihren Füßen und verspritzte klebriges Rot, ein anderer traf ihre Schulter und prallte ab, ohne kaputtzugehen. Er rollte davon, zu Junipa hinüber, die mit einem Reisigbesen in der Hand dastand und nicht recht wusste, was um sie herum geschah. Jetzt aber erfasste sie die Lage umso rascher, bückte sich, ergriff den Beutel und schleuderte ihn zurück auf die Eindringlinge. Der Junge mit der Bärenmaske sprang zur Seite, und das Wurfgeschoss traf den Vogelgesichtigen hinter ihm. Der Beutel zerplatzte auf der Spitze des Schnabels und übergoss den Besitzer mit grüner Farbe.
Dario jubelte, und Tiziano schlug Junipa aufmunternd auf die Schulter. Dann folgte die zweite Angriffswelle. Diesmal kamen sie weniger glimpflich davon. Boro, Tiziano und auch Merle wurden getroffen und über und über mit Farbe bekleckert.
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