Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Aus dem Augenwinkel sah Merle, wie Arcimboldo fluchend die Tür des Spiegellagers zuschlug und von innen verriegelte. Sollten sich doch seine Schüler die Köpfe einschlagen, solange nur die fertigen Zauberspiegel unbeschadet blieben.
Die Lehrlinge waren auf sich allein gestellt. Vier gegen vier. Eigentlich sogar fünf gegen vier, wenn man Junipa mitzählte - immerhin hatte sie trotz ihrer schwachen Augen den ersten Treffer für die Spiegelmacher erzielt.
»Das sind die Weberschüler vom anderen Ufer«, rief Boro Merle zu, während er nach einem Besen griff und ihn wie ein Schwert mit beiden Händen packte. »Egal, was geschieht, wir müssen die Werkstatt verteidigen.«
Typisch Jungen, dachte Merle und patschte ein wenig hilflos in der Farbe auf ihrem Kleid herum. Warum nur mussten sie sich ständig mit solchem Unsinn selbst beweisen?
Sie sah auf - und wurde von einem weiteren Farbbeutel an der Stirn getroffen. Zähes Gelb ergoss sich über ihr Gesicht und ihre Schultern.
Das reichte! Mit einem wütenden Schrei ergriff sie die Leimflasche, mit deren Inhalt sie den Spiegelrahmen geklebt hatte, und stürzte sich auf den erstbesten Weberjungen. Es war der mit der Bärenmaske. Er sah sie kommen und wollte nach einem Beutel in seiner Umhängetasche greifen. Zu spät! Merle war schon heran, schleuderte ihn mit einem Schlag nach hinten, ließ sich mit den Knien auf seine Brust fallen und schob das schmale Ende der Leimflasche in die linke der beiden Augenöffnungen.
»Mach die Augen zu!«, warnte sie und pumpte einen kräftigen Leimschwall unter die Maske. Der Junge fluchte, dann gingen seine Worte in einem Blubbern unter, gefolgt von einem lang gezogenen »Iiiiiiiihhhhhhh!«.
Sie sah, dass ihr Gegner vorerst außer Gefecht gesetzt war, stieß sich von ihm ab und sprang rückwärts auf die Beine. Die Leimflasche hielt sie jetzt wie eine Pistole, auch wenn das wenig Sinn machte, denn ein Großteil des Inhalts war vergossen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Boro und Tiziano mit zwei Weberjungen rangen, eine wilde Prügelei, in deren Verlauf die Maske des einen bereits zu Bruch gegangen war. Statt jedoch einzugreifen, lief Merle hinüber zu Junipa, packte sie am Arm und zog sie hinter eine der Werkbänke.
»Rühr dich nicht von der Stelle«, raunte sie ihr zu.
Junipa protestierte. »Ich bin nicht so hilflos wie du denkst.«
»Nein, bestimmt nicht.« Merle warf einen lächelnden Blick auf den Jungen mit der Vogelmaske. Sein Oberkörper war grün von Junipas Farbbeutel. »Trotzdem - bleib lieber in Deckung. Das hier kann nicht mehr lange dauern.«
Als sie aufsprang, sah sie, dass ihr Triumph verfrüht war. Tizianos Gegner hatte wieder die Oberhand gewonnen. Und von Dario fehlte jede Spur. Merle entdeckte ihn erst, als er plötzlich in der Tür stand. In seiner Hand blitzte eines der Messer, mit denen Arcimboldo gewöhnlich die hauchdünnen Silberplätten für die Rückseiten der Spiegel zurechtschnitt. Die Klinge war nicht lang, dafür rasiermesserscharf.
»Serafin!«, rief Dario dem Jungen mit der Vogelmaske entgegen. »Komm her, wenn du dich traust.«
Der Weberjunge sah das Messer in Darios Hand und stellte sich der Herausforderung. Seine beiden Gefährten wichen zum Eingang zurück, und auch Boro half erst Tiziano auf die Beine und schob dann Merle an den Rand der Werkstatt.
»Sind die verrückt geworden?«, presste sie atemlos hervor. »Die werden sich gegenseitig umbringen.«
Boros Stirnrunzeln verriet, dass er ihre Sorge teilte. »Dario und Serafin hassen sich, seit sie sich zum ersten Mal gesehen haben. Serafin ist der Anführer der Weber. Er hat das alles ausgeheckt.«
»Das ist kein Grund, mit einem Messer auf ihn loszugehen.«
Während sie noch sprachen, waren Dario und Serafin in der Mitte des Raumes aufeinander getroffen. Merle fand, dass Serafin sich leichtfüßig wie ein Tänzer bewegte. Geschickt wich er den plumpen Angriffen Darios aus, dessen Messer silbrige Spuren in die Luft schnitt. Ehe sich’s Dario versah, hatte der Weberjunge ihm das Messer aus den Fingern geprellt. Mit einem Wutschrei stürzte sich Dario auf seinen Gegner und versetzte ihm einen heimtückischen Faustschlag auf den Kehlkopf. Das gelbe Vogelantlitz flog zur Seite und enthüllte Serafins Gesicht. Seine Wangenknochen waren fein geschnitten, ein paar Sommersprossen sprenkelten seinen Nasenrücken. Er hatte blondes Haar, wenn auch nicht so hell wie das von Junipa; die grüne Farbe verklebte es zu Strähnen.
Die
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