Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Haar wurde vom Wind zerzaust, sein Gesichtsausdruck verriet Unsicherheit. Es lag an ihm, den Rückzug zu befehlen, doch Merle sah ihm an, dass er nicht einmal die Möglichkeit in Betracht zog. Finden. Fangen. So lautete der Befehl. Notfalls töten. Für ihn gab es keine Alternative.
Es ging schnell. Ihre Gegner hatten nicht den Hauch einer Chance. Der Hauptmann blieb als Letzter übrig, und abermals bot Vermithrax ihm den Rückzug an. Der Soldat aber spornte seinen Löwen nur noch lauter an. In Windeseile schoss er auf Vermithrax und Merle zu. Ganz kurz sah es aus, als gelänge es dem Gardelöwen tatsächlich, einen Treffer mit der Kralle zu landen. Doch Vermithrax flog ein Ausweichmanöver, das Merle erneut in eine gefährliche Schräglage brachte. Zugleich setzte er zum Gegenangriff an. In den Augen seines Feindes stand Begreifen, doch nicht einmal die Erkenntnis der Niederlage war stark genug, ihn zur Umkehr zu bewegen. Vermithrax schrie gequält auf, als er seine Krallen in die Flanke des anderen grub; dann drehte er so schnell bei, dass er nicht mit ansehen musste, wie Löwe und Reiter ins Wasser stürzten.
Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Sogar die Fließende Königin schwieg betroffen.
Unter ihnen zogen Inseln dahin, auf denen noch die Ruinen der alten Festungsanlagen standen, die man zur Verteidigung gegen das Imperium errichtet hatte. Heute waren sie nicht mehr als Gerippe aus Stein und Stahl. Kanonenrohre rosteten in der Sonne, überzuckert vom Salzwind des Mittelmeers. Hier und da ragten vergessene Zeltstangen aus der sumpfigen Wildnis, kaum zu unterscheiden vom meterhohen Schilf.
Einmal flogen sie über ein Gebiet, in dem das Wasser heller aussah, als erstrecke sich unter der Oberfläche eine Formation weiter Sandbänke.
»Eine versunkene Insel«, sagte die Königin. »Die Strömung hat ihre Mauern längst abgetragen.«
»Ich kenne sie«, sagte Merle. »Manchmal hört man noch ihre Glocken läuten.«
Doch heute schwiegen selbst die Geister. Merle hörte nichts als den Wind und das leise Rauschen der Obsidianschwingen.
Sonnenbarken
Das Licht der Morgensonne war nicht stark genug, um den Kanal der Ausgestoßenen aufzuhellen. Golden übergoss ihr Licht die oberen Stockwerke der Häuser, endete jedoch abrupt acht Meter über dem Boden. Darunter herrschte ewige Dämmerung.
Die einsame Gestalt, die von Eingang zu Eingang huschte, war froh darüber. Sie war auf der Flucht. Das Halblicht kam ihr sehr gelegen.
Serafin schlich an den Fassaden der leer stehenden Gebäude vorbei und warf immer wieder Blicke nach hinten, zur Mündung des nächsten Kanals. Falls ihm jemand gefolgt war, würde er dort zuerst auftauchen. Oder oben am Himmel, auf einem geflügelten Löwen. Allerdings hielt Serafin das für unwahrscheinlich. Nach allem, was auf der Piazza San Marco geschehen war, hatte die Garde vermutlich Wichtigeres zu tun - Merle verfolgen, zum Beispiel.
Er hatte sie erkannt, auf dem Rücken der schwarzen Bestie, die wie ein Unwetter aus dem Tor des Campanile hervorgetobt war. Erst hatte er seinen Augen nicht getraut, aber mit einem Mal war er ganz sicher gewesen. Es war Merle, ohne jeden Zweifel. Doch warum ritt sie auf einem geflügelten Löwen, noch dazu dem größten, den Serafin je gesehen hatte? Die einzige Erklärung war die Fließende Königin. Er konnte nur hoffen, dass Merle nichts zustieß. Schließlich war er es gewesen, der ihnen all das eingebrockt hatte. Warum musste er auch seine Nase in Dinge stecken, die ihn nichts angingen? Wären sie den Löwen nicht zu dem Haus gefolgt, in dem sich die Verräter mit dem Gesandten getroffen hatten… ja, was dann? Möglicherweise lägen die Galeeren des Pharaos dann schon am Zattere-Kai, und auf den Kanälen spiegelte sich das Vernichtungsfeuer der Sonnenbarken.
Im Trubel und in der Panik auf der Piazza war er mühelos in einer der Gassen untergetaucht. Dennoch würde es nicht lange dauern, bis die Garde in Erfahrung gebracht hatte, dass Serafin, der einstige Meisterdieb der Gilde, im Haus des Umberto lebte. Spätestens am Nachmittag würden die Soldaten am Kanal der Ausgestoßenen nach ihm suchen.
Doch wohin sonst sollte er sich wenden? Umberto würde ihn hinauswerfen, wenn er hörte, was geschehen war. Aber Serafin erinnerte sich an das, was Merle über Arcimboldo erzählt hatte. Im Gegensatz zu Umberto schien der Spiegelmacher ein sanftmütiger Meister zu sein – auch wenn Arcimboldo nach all den Streichen, die sie ihm gespielt hatten,
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