Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
nicht leichtsinnig!«
Wieder lachte der Löwe. »Wir zwei werden uns gut verstehen, mutige Merle.«
Ihr blieb keine Zeit herauszufinden, ob er sich über sie lustig machte. Scharfes Zischen drang an ihre Ohren - Gewehrkugeln, die an ihnen vorübersausten.
»Sie schießen auf uns!«
Ihre Verfolger waren etwa hundert Meter hinter ihnen. Sechs Löwen, sechs bewaffnete Männer im Auftrag der Verräter.
»Kugeln können mir nichts anhaben«, rief Vermithrax.
»Na, wunderbar! Dir vielleicht nicht. Mir schon!«
»Ich weiß. Deshalb werden wir…« Er brach ab und lachte dröhnend. »Lass dich überraschen.«
»Er ist verrückt!« Hätte Merle laut gesprochen, hätte ihre Stimme resigniert geklungen.
» Vielleicht ein wenig.«
»Hältst du mich für verrückt?«, fragte der Obsidianlöwe belustigt.
Warum lügen? »Du warst zu lange in diesem Turm gefangen. Und du weißt nichts über uns Menschen.«
»Hast du mir nicht dasselbe vorgeworfen?«, mischte sich die Fließende Königin ein. »Mach es dir nicht zu einfach.«
Vermithrax schlug einen scharfen Haken nach rechts, um einer weiteren Gewehrsalve auszuweichen. Merle schwankte auf seinem Rücken, doch seine buschige Schwanzspitze drückte sie fest in die Löwenmähne.
»Wenn die weiter so wahllos schießen, wird ihnen bald die Munition ausgehen«, brüllte sie in den Gegenwind.
»Das sind nur Warnschüsse. Sie wollen uns lebend.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Sie hätten dich längst treffen können, wenn sie wollten.«
»Weiß Vermithrax das?«
»Natürlich. Unterschätze nie seine Intelligenz. Diese Flugmanöver sind harmlose Spielereien. Er macht sich einen Spaß daraus. Womöglich will er nur herausfinden, ob er in all den Jahren etwas verlernt hat.«
Merles Magen fühlte sich an, als zerrten ihn Hände in unterschiedliche Richtungen. »Mir ist schlecht.«
»Das legt sich«, gab Vermithrax zurück.
»Du hast gut reden.«
Der Löwe schaute zurück. »Da sind sie.«
Er hatte ihre Verfolger herankommen lassen. Vier waren noch immer hinter ihnen, doch zwei flankierten jetzt ihre Seiten. Einer der Reiter, ein weißhaariger Hauptmann der Garde, sah Merle in die Augen. Er ritt auf einem Quarzlöwen.
»Gebt auf!«, rief er über die Kluft herüber. Er war etwa zehn Meter entfernt. »Wir sind bewaffnet und in der Überzahl. Wenn ihr in dieser Richtung weiterfliegt, fallt ihr den Ägyptern in die Hände. Das können wir nicht zulassen - und ihr könnt das nicht wollen.«
»Welchem Ratsherrn unterstehen Sie?«, rief Merle.
»Rat Damiani.«
»Das ist keiner der drei Verräter«, sagte die Königin.
»Warum verfolgen Sie uns?«
»Ich habe meine Befehle. Und, Herrgott, das da unter dir ist der Uralte Verräter, Mädchen! Er hat halb Venedig in Schutt und Asche gelegt. Du kannst nicht erwarten, dass wir ihn einfach ziehen lassen.«
Vermithrax wandte dem Hauptmann seinen Schädel zu und musterte ihn aus schwarzen Obsidianaugen. »Wenn du aufgibst und umkehrst, lasse ich dich am Leben, Mensch.«
Etwas Seltsames geschah. Es war nicht die Reaktion des Gardisten, die Merle verblüffte, sondern die seines Löwen. Bei Vermithrax’ Worten war das geflügelte Wesen aus der Gleichgültigkeit erwacht, mit der seinesgleichen für gewöhnlich den Befehlen seiner menschlichen Meister folgte. Der Löwe starrte zu Vermithrax herüber, und einen Moment lang wurde sein Flügelschlag hektischer. Auch der Hauptmann bemerkte es und zerrte irritiert an den Zügeln. »Ganz ruhig«, formten seine Lippen, doch der Wind riss die Worte mit sich fort.
»Er kann nicht verstehen, warum Vermithrax spricht«, erklärte die Fließende Königin.
»Rede mit ihm«, rief Merle ins Ohr des Obsidianlöwen. »Das ist unsere Chance.«
Vermithrax ließ sich abrupt zehn Meter nach unten fallen. Zwei Mannslängen lagen jetzt noch zwischen seinen Pranken und der aufgewühlten See. Je näher sie den Wellen kamen, desto stärker empfand Merle die Geschwindigkeit.
»Jetzt!«, brüllte Vermithrax. »Gut festhalten!«
Merle klammerte sich noch tiefer in seine windzerzauste Mähne, als der Obsidianlöwe mit einer Reihe rascher Schwingenschläge beschleunigte, dann eine Drehung um hundertachtzig Grad vollzog, zugleich wieder aufstieg und mit einem Mal auf ihre verdutzten Verfolger zuflog.
»Löwen«, rief er mit donnernder Stimme über das Wasser hinweg. »Hört mich an!«
Die sechs geflügelten Löwen der Garde zögerten. Die Schläge ihrer Schwingen verlangsamten sich. Sie hingen jetzt
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