Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
vermutlich nicht allzu gut auf einen Weberjungen zu sprechen sein würde. Doch diese Gefahr nahm Serafin in Kauf.
Vor der Tür der Spiegelwerkstatt lag das Boot vertäut, mit dem Arcimboldo einmal im Monat die neuen Spiegel zu ihren Käufern brachte. Niemand wusste genau, wer seine Kunden waren. Aber wen kümmerten schon ein paar Zauberspiegel? Serafin erschien das alles plötzlich belanglos.
Die Haustür stand offen. Stimmen ertönten aus dem Inneren. Serafin zögerte. Er konnte nicht einfach dort hineinspazieren. Wenn Dario oder einer der anderen Jungen ihm über den Weg lief, war es mit der Heimlichkeit vorbei. Irgendwie musste es ihm gelingen, den Spiegelmacher allein zu erwischen.
Ihm kam eine Idee. Wachsam schaute er zur Weberwerkstatt am gegenüberliegenden Ufer. Hinter den Fenstern war niemand zu sehen. Gut so. Auch vor Arcimboldos Haus zeigte sich im Augenblick keine Menschenseele.
Serafin löste sich aus dem Schatten eines Hauseingangs und rannte los. Geschwind näherte er sich dem Boot. Der Rumpf war flach und lang gestreckt. Im hinteren Teil hingen in einer hölzernen Rahmenkonstruktion mehr als ein Dutzend Spiegel. Die engen Zwischenräume waren mit Baumwolldecken ausgestopft.
Weitere Decken lagen auf einem großen Haufen im Bug des Bootes. Serafin wühlte ein paar zur Seite, kauerte sich darunter zusammen und zog sie über seinen Kopf. Mit ein wenig Glück würde ihn niemand bemerken. Er würde sich Arcimboldo zu erkennen geben, wenn sie unterwegs waren.
Es dauerte ein paar Minuten, dann ertönten abermals Stimmen. Gedämpft hörte er jene von Dario heraus. Die Jungen brachten eine letzte Ladung Spiegel aufs Boot, befestigten sie sicher in den Verankerungen und gingen wieder an Land. Arcimboldo gab ein paar Anweisungen, dann schaukelte es ein wenig stärker, und schließlich setzte sich das Boot in Bewegung.
Bald darauf lugte Serafin unter den Decken hervor. Der Spiegelmacher stand am anderen Ende des Bootes und stakte wie ein Gondoliere mit einem Ruder im Wasser. Das Boot glitt gemächlich den Kanal hinunter, bog ab, fuhr weiter. Gelegentlich hörte Serafin die traditionellen Warnrufe der Gondelfahrer, die sie ausstießen, bevor sie sich Kreuzungen näherten. Die meiste Zeit aber herrschte Stille. Nirgends in der ganzen Stadt war es so ruhig wie auf den Seitenkanälen, tief eingebettet im Labyrinth der melancholischen Viertel.
Serafin wartete ab. Erst einmal wollte er sehen, wo Arcimboldo an Land ging. Das sanfte Schaukeln war so beruhigend, machte ihn schläfrig…
Serafin schreckte auf. Er war eingenickt. Kein Wunder, unter den warmen Decken und nach einer Nacht, in der er kein Auge zugetan hatte. Das Knurren seines Magens hatte ihn geweckt.
Als er durch einen Spalt zwischen den Decken ins Freie schaute, staunte er nicht schlecht: Sie hatten die Stadt verlassen und glitten über offenes Wasser. Venedig lag bereits ein ganzes Stück zurück. Sie fuhren nach Norden, einem Irrgarten aus winzigen Sumpfinseln entgegen. Arcimboldo stand unverändert am Ruder und schaute mit versteinerten Zügen über das Meer.
Jetzt wäre eine gute Gelegenheit. Hier draußen würde niemand sie zusammen sehen. Andererseits gewann nun Serafins Neugier die Oberhand. Wohin lieferte Arcimboldo die Spiegel? Seit Ausbruch des Krieges lebte hier niemand mehr, die äußeren Eilande waren verlassen. Umberto hatte vermutet, dass Arcimboldo seine Ware an reiche Damen der Gesellschaft verkaufte, ähnlich wie der Webermeister. Doch in dieser Einöde? Sogar die Löweninsel hatten sie längst hinter sich gelassen. Nur der Wind säuselte über grünbraunen Wogen, manchmal war ein Fisch zu sehen.
Eine weitere halbe Stunde mochte vergangen sein, ehe vor ihnen eine winzige Insel auftauchte. Der Spiegelmacher hielt auf ihr Ufer zu. In weiter Ferne, hoch über dem Festland, glaubte Serafin schmale Striche am Himmel zu sehen. Aufklärer des Pharaos; Sonnenbarken, angetrieben von der schwarzen Magie der Hohepriester. Doch sie waren zu weit entfernt, um dem Boot gefährlich zu werden. So tief wagte sich keine Barke ins Reich der Fließenden Königin.
Die Insel mochte einen Durchmesser von zweihundert Metern haben. Sie war mit Schilf und buschigen Bäumen bewachsen. Der Wind hatte Baumkronen und knotiges Astwerk erbarmungslos zu Boden gedrückt. Früher einmal waren solche Eilande beliebte Standorte einsamer Villen gewesen, die sich der Adel Venedigs errichten ließ. Seit über dreißig Jahren aber kam niemand mehr her, schon gar
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