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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nahezu bewegungslos in der Luft; dabei senkten sich ihre Hinterteile abwärts, verlagerten sich aus der Horizontalen fast in die Senkrechte. Gurte und Schnallen knirschten, als die sechs Reiter in ihren Sicherheitsaufhängungen hochgerissen wurden. Keiner hatte mit diesem Manöver gerechnet. Die Löwen handelten aus eigenem Willen, und daran waren die Gardisten nicht gewöhnt.
    Der Hauptmann rief seine Männer zu den Gewehren: »Legt auf das Mädchen an!« Doch in dieser Position waren den Soldaten die riesigen Schädel ihrer Löwen im Weg, und keiner konnte mit nur einer Hand zielen und sich mit der anderen an der Mähne festklammern.
    »Hört mich an!«, rief Vermithrax noch einmal und blickte von einem Löwen zum anderen. Auch er schwebte auf der Stelle, nur seine Schwingen schlugen gemächlich auf und nieder. »Einst kehrte ich in diese Stadt zurück, um euch von dem Joch eurer Unterdrücker zu befreien. Für ein Leben in Freiheit. Für ein Dasein ohne Zwänge und Befehle und Kämpfe, die nie eure eigenen waren. So viel Luft unter euren Schwingen, wie ihr wollt! Jagen und kämpfen und, ja, wieder sprechen, wann ihr wollt! Ein Leben wie das eurer Vorfahren!«
    »Er benutzt eure Sprache«, sagte die Fließende Königin. »Ihre eigene verstehen die Löwen nicht mehr.«
    »Sie hören ihm zu.«
    »Fragt sich nur, wie lange.«
    Die sechs Reiter brüllten hilflos auf ihre Löwen ein, aber Vermithrax’ Stimme übertönte sie mühelos. »Ihr zögert, weil ihr nie zuvor gehört habt, dass ein Löwe die Sprache der Menschen spricht. Aber zögert ihr nicht auch, weil es einen Löwen gibt, der bereit ist, für seine Freiheit zu kämpfen? Schaut hin und fragt euch: Erkennt ihr in mir nicht euch selbst wieder?«
    Einer der Löwen stieß ein scharfes Fauchen aus. Vermithrax zuckte kaum merklich zusammen.
    »Er trauert«, erklärte die Königin. »Weil sie sein könnten wie er und doch nur noch Tiere sind.«
    Andere Löwen fielen in das Fauchen mit ein, und der Hauptmann, der mit den Stimmen der Löwen aufgewachsen war und sein ganzes Leben mit ihnen zugebracht hatte, lächelte siegessicher.
    »Lehnt euch gegen eure Meister auf!«, brüllte Vermithrax zornig. Die Stimmung kippte von einem Augenblick zum nächsten, ohne dass Merle verstand, was der Grund dafür war. »Lasst euch nicht länger Befehle geben! Werft eure Reiter ins Meer, oder tragt sie zurück in die Stadt! Aber lasst uns in Frieden ziehen.«
    Der Löwe, der als Erster gefaucht hatte, fuhr drohend die Krallen seiner Vorderpranken aus.
    »Es hat keinen Sinn«, seufzte die Fließende Königin. »Es war den Versuch wert, aber es ist zwecklos.« »Ich verstehe das nicht«, dachte Merle verwirrt. »Warum hören sie nicht auf ihn?«
    »Sie fürchten ihn. Sie haben Angst vor seiner Überlegenheit. Seit vielen, vielen Jahren hat kein Löwe in Venedig mehr gesprochen. Diese hier sind in dem Glauben aufgewachsen, dass sie durch ihre Schwingen allen anderen Löwen überlegen sind. Doch nun kommt einer daher, der noch mächtiger ist als sie. Das verstehen sie nicht.«
    Merle spürte Wut in sich aufsteigen. »Dann sind sie genau wie wir Menschen.«
    »So, so« , erwiderte die Königin. In ihrer Stimme lag ein Schmunzeln. »Wird aus der Waise vielleicht noch eine Weise?«
    »Mach dich nur lustig.«
    »Nein, verzeih. Das wollte ich nicht.«
    Vermithrax sprach leise über seine Schulter. »Wir werden fliehen müssen. Mach dich bereit.«
    Merle nickte. Ihr Blick wanderte über die sechs Gardisten. Noch immer war es keinem gelungen, sein Gewehr anzulegen. Doch das würde sich ändern, sobald sich die Löwen wieder in der Waagerechten befanden; sobald sie wieder vorwärts flogen.
    »Und - los!«, brüllte Vermithrax.
    Was dann geschah, ging so schnell, dass Merle erst im Nachhinein erkannte, wie nah sie dem Tod gewesen war.
    Mit einem Brüllen und kraftvollen Flügelschlägen schnellte Vermithrax vorwärts, unter der Formation der sechs Gardisten hindurch, dahinter steil nach oben und kopfüber über sie hinweg!
    Merle quietschte erschrocken. Sogar die Königin schrie auf.
    Vermithrax drehte sich abermals, und nun saß Merle wieder obenauf, klammerte sich an seine Mähne und begriff noch immer nicht so recht, wie sie die letzten Sekunden heil überstanden hatte. Der Augenblick, in dem sich das Meer plötzlich über ihr befunden hatte, war kurz gewesen und nicht wirklich gefährlich - Vermithrax war zu schnell, hatte zu viel Schwung gehabt, als dass Merle ihren Halt hätte verlieren

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