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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihr Hinterteil von dem langen Ritt auf dem steinernen Löwenrücken schmerzte. Sie versuchte sich zu bewegen, aber das war so gut wie unmöglich.
    » Nicht absteigen«, sagte die Königin. »Kann sein, dass wir ziemlich überstürzt wieder abheben müssen.«
    Tolle Aussichten, dachte Merle.
    »Es geht los.«
    »Ja… das sehe ich.«
    Vermithrax, der nicht mehr über das Imperium und seine Methoden wusste als das, was Merle und die Königin ihm erzählt hatten, nachdem sie ihn aus seinem Turmgefängnis mitten auf der Piazza San Marco befreit hatten, stieß ein tiefes Fauchen aus. Seine Mähne versteifte sich. Seine Barthaare standen mit einem Mal so gerade ab, als hätte man sie mit einem Lineal gezogen.
    Es begann damit, dass um sie herum die Blatter an den Bäumen welkten, so schnell, als habe der Herbst beschlossen, seine Arbeit ein paar Monate zu früh und innerhalb von Minuten zu erledigen. Das Laub färbte sich braun, wellte sich und rieselte von den Ästen herab. Die Fichte, unter der sie Schutz gesucht hatten, verlor all ihre Nadeln, und von einem Moment zum nächsten waren Vermithrax und Merle mit einem braunen Mantel bedeckt.
    Merle schüttelte sich und blickte zum Sammler empor. Sie befanden sich nicht direkt darunter, Gott bewahre, aber sie waren nahe genug, dass sie seine gesamte Unterseite im Blick hatte.
    Die riesenhafte Fläche war plötzlich mit einem Netzwerk dunkelgelb leuchtender Streifen überzogen, kreuz und quer, vielfach verwinkelt und keinem erkennbaren Muster folgend. Nur in der Mitte blieb eine runde Fläche dunkel, halb so groß wie die Piazza San Marco. Merle musste sich fester an Vermithrax’ Obsidianmähne klammern, als urplötzlich der Boden erzitterte wie bei einem starken Erdbeben. Ganz in der Nähe wurden mehrere Bäume entwurzelt und kippten zur Seite, rissen andere mit sich und krachten inmitten dichter Wolken aus aufstiebendem Laub und Nadeln zu Boden. Einen Moment lang fiel es Merle schwer zu atmen, so gesättigt war die Luft von trockenen Splittern und Bröseln des ausgedörrten Blattwerks. Als ihre Augen aufhörten zu tränen, sah sie, was geschehen war.
    Die Wiese, über der die Mumienfabrik schwebte, war verschwunden. Das Erdreich war aufgerissen wie von einer Armee unsichtbarer Riesenmaulwürfe. Das glühende Netz haftete jetzt nicht länger an der Unterseite des Sammlers, sondern war in eine Unzahl gleißender Lichtstränge und Haken zerfasert, keiner geformt wie der andere. Sie alle wiesen abwärts, näherten sich mit ihren Enden dem verwüsteten Boden und zerrten etwas daraus hervor.
    Körper. Graue eingefallene Leichen.
    »So kommen sie also an ihre Mumienkrieger«, flüsterte Vermithrax, und seine Stimme klang, als würde sie jeden Augenblick vor Grauen versagen.
    Merle riss an seiner Mähne. Sie hatte den Blick abgewandt, konnte nicht mehr mit ansehen, was sich vor ihren Augen abspielte. »Lass uns abhauen!«
    »Nein!«, sagte die Fließende Königin.
    Aber Vermithrax erging es genauso wie Merle. Nur weg von hier. Fort aus dem Sog des Sammlers, bevor sie selbst an einem der flirrenden Haken endeten und hinaufgezogen wurden ins Innere der Mumienfabrik, wo Sklaven und Maschinen etwas aus ihnen machen würden, das von einer anderen Art von Leben erfüllt war, von Demut und Gehorsam und dem Willen zu töten.
    »Festhalten!«, brüllte er. Die Königin widersprach lautstark mit Merles Stimme, doch der Obsidianlöwe beachtete sie nicht. In Windeseile trugen seine Schwingen sie empor in die Lüfte. Mit einem gewagten Manöver wandte er sich nach Osten, der näher rückenden Dunkelheit entgegen. Zugleich stieß er vorwärts, ungeachtet aller Sonnenbarken und Hohepriester, die in diesem Moment auf sie aufmerksam wurden.
    Merles Arme verschwanden bis zu den Ellbogen in Vermithrax’ Mähne, so fest krallte sie sich in seinen Pelz. Sie beugte sich tief über seinen Hals, um weniger Luftwiderstand zu bieten, aber auch um den Geschossen der Ägypter auszuweichen. Sie wagte kaum aufzublicken, aber schließlich tat sie es doch, und da sah sie, dass ein halbes Dutzend Sonnenbarken aus ihrer Formation rund um den Sammler ausgeschert waren und die Verfolgung aufgenommen hatten.
    Vermithrax’ Plan war so simpel wie selbstmörderisch.
    Er ahnte wohl, dass sich in dem mächtigen Rumpf des Sammlers Waffen befinden mussten, mit denen es ein Leichtes war, einen fliegenden Löwen vom Himmel zu schießen. Wenn er aber die Nähe der Sonnenbarken suchte, würden sich die Befehlshaber an Bord

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