Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
umgekehrt. Du willst beschützen, was zu dir gehört. Aber warum Vermithrax? Er könnte einfach zurück zu seinen Verwandten nach Afrika fliegen.«
» Falls er sie dort noch finden würde. Das Imperium hat sich nicht nur nach Norden ausgedehnt.«
»Du glaubst, die anderen sprechenden Löwen sind tot?«
»Ich weiß es nicht«, sagte die Königin traurig. » Vielleicht. Möglicherweise sind sie auch einfach nur weiter gezogen, so weit fort, dass die Ägypter sie vorerst nicht finden werden.«
»Und Vermithrax weiß das?«
» Vielleicht ahnt er es.«
»Dann sind wir alles, was er noch hat, nicht wahr? Seine einzigen Freunde.« Merle streckte eine Hand aus und streichelte sanft über eine steinerne Pranke des Löwen. Vermithrax stieß ein sanftes Schnurren aus, drehte sich auf die Seite und schob ihr alle vier Pfoten entgegen. Seine Lefzen flatterten bei jedem Atemzug, und Merle konnte sehen, dass seine Augen unter den Lidern zuckten. Er träumte.
Sie zog ihr Cape enger um ihren Körper, um sich vor dem kühlen Wind zu schützen, dann kuschelte sie sich ganz nah an Vermithrax an. Wieder schnurrte er wohlig und begann leise zu schnarchen.
Die Königin ist hier, dachte sie, weil sie und Venedig auf irgendeine Art zueinander gehören. Eines kann nicht ohne das andere existieren. Aber was ist mit mir? Was tue ich eigentlich hier?
Ihre engsten Vertrauten, Junipa und Serafin, ihr Lehrmeister Arcimboldo und natürlich Unke, sie alle waren noch in Venedig und dort den Gefahren der ägyptischen Invasion ausgeliefert. Merle selbst war Waise, sie war als kleines Kind in einem Korb auf den Kanälen gefunden worden und im Waisenhaus aufgewachsen; der Gedanke, dass sie keine Eltern hatte, um die sie sich hätte Sorgen machen müssen, war heute ausnahmsweise einmal beruhigend.
Doch ganz so einfach war das nicht. Irgendwann würde sie erfahren, was für Menschen ihre Mutter und ihr Vater gewesen waren. Irgendwann, ganz bestimmt.
Gedankenverloren zog sie den magischen Handspiegel unter ihrem Cape hervor. Die Oberfläche bestand aus Wasser, das nicht aus dem Spiegel entweichen konnte, egal, wie herum man ihn auch hielt. Wenn Merle ihren Arm hineinschob, spürte sie manchmal, wie ihre Finger von einer sanften, warmen Hand umschlossen wurden, auf der anderen Seite des Spiegels, in seinem Inneren. Der Wasserspiegel hatte neben ihr im Korb gelegen, als man sie damals gefunden hatte. Er war das Einzige, was sie mit ihren Eltern verband. Die einzige Spur.
Noch etwas befand sich in dem Spiegel: ein milchiger Hauch, der unablässig über die Oberfläche geisterte. Der Schemen war aus einem von Arcimboldos Zauberspiegeln entwichen und hatte sich in dem kleinen Handspiegel festgesetzt. Merle wollte nur zu gerne Kontakt mit ihm aufnehmen. Fragte sich nur, wie. Serafin hatte ihr erzählt, dass die Schemen in Arcimboldos Spiegeln Menschen aus einer anderen Welt waren, denen es gelungen war, in diese hier überzuwechseln - ohne allerdings zu ahnen, dass sie hier nur als Schemen ankamen, formlose Schleier, die im Inneren von Spiegeln gefangen waren.
Serafin… Merle seufzte unhörbar.
Sie hatte ihn kaum richtig kennen gelernt, da waren sie auch schon von der Leibgarde der Ratsherren getrennt worden. Nur wenige Stunden hatten sie miteinander verbracht, aufreibende, gefährliche Stunden, in denen sie dem ägyptischen Spion die Kristallkaraffe mit der Essenz der Fließenden Königin entrissen hatte. Und obwohl sie nur so wenig voneinander wussten, vermisste sie ihn.
Mit dem Gedanken an sein Lächeln, an den Schalk in seinen Augen schlief sie ein.
Im Traum war ihr, als höre sie den Schrei eines Falken. Sie erwachte kurz von einem sanften Luftzug auf ihrem Gesicht, vom Geruch von Federn, aber da war nichts in ihrer Nähe, und falls doch, so verbarg es sich wieder im Dunkeln.
Der Meisterdieb
Vor einer ganzen Weile hatten Venedigs Turmuhren Mitternacht geschlagen. Tiefe Dunkelheit lag über der Stadt und den Gewässern der Lagune. Die Gassen waren menschenleer, nichts rührte sich außer den streunenden Katzen, die unbeeindruckt von der Bedrohung durch das Imperium auf Beutejagd gingen.
Am Ufer des schmalen Kanals war es still, beängstigend still. Serafin saß auf der Steinkante und ließ die Füße baumeln. Seine Sohlen schwebten nur eine Handbreit über dem Wasser. Die Häuserschneise, der er hierher gefolgt war, war eng und düster; sie endete als Sackgasse vor der Wasserkante.
Es war nicht lange her, da war er mit Merle hergekommen
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