Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
des Sammlers vielleicht zweimal überlegen, ob sie Schüsse auf ein Ziel inmitten ihrer eigenen Leute abgaben.
Es wird nicht funktionieren, dachte Merle. Vermithrax’ Plan wäre gut gewesen, wenn sie es mit gewöhnlichen Gegnern zu tun gehabt hätten, solchen, die der geflügelte Löwe aus jenen Zeiten kannte, als er noch kein Gefangener der venezianischen Stadtgarde gewesen war. Doch die Sonnenbarken waren mit Mumienkriegern besetzt, jeder von ihnen nur zu leicht ersetzbar, und selbst den ein oder anderen Priester würden sie opfern.
Vermithrax fluchte, als ihm dieselbe Erkenntnis kam. Nur ein kleines Stück vor ihnen zischte ein mannslanger Bolzen aus Holz durch die Luft, abgefeuert aus einer der Luken im Rumpf des Sammlers. Die Mumienfabrik selbst war zu schwerfällig für eine Verfolgung, doch ihre Waffen waren tückisch und weit reichend.
Merle war übel, schlimmer denn je, als Vermithrax immer neue Haken schlug und wendige Manöver flog, die sie seinem schweren Steinleib nicht zugetraut hätte. Auf und ab ging es, oft in so raschem Wechsel, dass Merle bald jedes Gefühl für oben und unten verlor. Sogar die Königin schwieg betroffen.
Einmal blickte Merle zurück. Sie befanden sich jetzt beinahe auf Höhe der Aussichtsplattform am oberen Ende der Pyramide. Mehrere Gestalten standen hinter den Zinnen, Merle konnte ihre Gewänder und verbissenen Mienen erkennen. Hohepriester, vermutete sie.
Unter ihnen war einer, der ihr besonders ins Auge fiel.
Er war einen guten Kopf größer als die Übrigen und trug einen aufgebauschten Mantel, der aussah, als wäre er aus purem Gold gewebt. Sein haarloser Schädel war mit einem Netzwerk aus goldfarbenen Fäden überzogen, wie Gravuren eines Kunstschmieds auf einer Brosche. Seine Hände umklammerten verbissen die Ränder der Zinnen.
»Der Wesir des Pharaos«, flüsterte die Königin in ihrem Kopf. »Sein Name ist Seth. Er ist der höchste Priester des Horuskultes.«
»Seth? Ist das nicht auch der Name eines ägyptischen Gottes?«
»Die Horuspriester waren noch nie für ihre Bescheidenheit bekannt.«
Merle hatte das Gefühl, als bohrten sich die Blicke des Mannes über die Distanz hinweg in ihr Hirn. Einen Herzschlag lang kam es ihr vor, als stöhnte die Königin in ihrem Inneren schmerzerfüllt auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Schau weg! Bitte … Nicht in seine Augen.«
Im selben Moment raste ein ganzer Schwarm Bolzen über sie hinweg. Zwei davon schlugen in Sonnenbarken, die sich in unmittelbarer Nähe des Löwen befanden. Aus einer quoll Rauch, während sie in einer holprigen Spirale abwärts trudelte. Die andere fiel wie ein Stein und zerschmetterte am Boden in einem Feuerwerk aus Eisensplittern. Die übrigen Sonnenbarken zogen sich sofort zurück, um nicht ebenfalls in den Geschosshagel des Sammlers zu geraten.
Das war die Chance, auf die Vermithrax gewartet hatte.
Mit einem wilden Aufschrei stürzte er sich in die Tiefe. Merle kreischte auf seinem Rücken, als der Boden blitzschnell näher kam. Schon sah sie sich zerschmettert neben den Trümmern der Barke liegen.
Doch wenige Meter über den Felsen fing Vermithrax den Sturz ab, fegte über den Boden und die Kante einer Steilwand hinweg, um dann erneut in die Tiefe zu sacken, die Wand hinunter und aus dem direkten Schussfeld des Sammlers. Jetzt hatten sie es nur noch mit den vier Barken zu tun, die ihnen jeden Augenblick über die Felskante folgen mussten.
Die Fließende Königin hatte sich vom durchdringenden Blick des Wesirs erholt. »Ich wusste schon, warum ich Vermithrax für unsere Flucht ausgewählt habe.«
»Weil du keine andere Wahl hattest.« Merle hörte kaum ihre eigenen Worte, der Gegenwind riss sie von ihren Lippen wie Papierschnipsel.
Die Königin lachte in ihren Gedanken, was ein sonderbares Gefühl war, denn Merle kam es vor, als lachte sie selbst, ganz ohne ihr Zutun.
Der Löwe legte sich wieder in die Waagerechte und überquerte einen Irrgarten aus Felsspalten, ehe er eine entdeckte, die breit genug war, um darin abzutauchen. Rechts und links von ihnen schlugen Geschosse ein, Stahlkugeln diesmal, die aus Läufen an den Spitzen der Sonnenbarken abgefeuert wurden. Aber keine kam ihnen nahe genug, um gefährlich zu werden. Steinsplitter regneten von allen Seiten auf sie herab. Funken sprühten, wenn Querschläger über die Felswände schlitterten und Furchen in das Gestein fraßen.
Die Schlucht war nicht tief, kaum mehr als sechs oder sieben Schritt. Nach unten hin wurde sie
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