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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Mumienkrieger. Auch kein Priester.
    „Ein Sphinx", flüsterte die Fließende Königin.
    Das Geschöpf hatte den Oberkörper eines Mannes, dessen Hüfte in den Leib eines Löwen überging, mit sandfarbenem Fell, vier muskulösen Beinen und messerscharfen Raubtierkrallen. Er schien Vermithrax und die Mädchen kaum wahrzunehmen, so sehr hatte ihn der Absturz mitgenommen. Aus mehreren Platzwunden floss das Blut in sein Fell, ein Riss an seinem Kopf war besonders tief. Kraftlos stemmte er sich in mehreren Anläufen aus der Luke, ehe er schließlich das Gleichgewicht verlor, über die Kante des Barkenrumpfs rollte und stürzte. Eine Stufe tiefer prallte er auf, so schwer wie ein ausgewachsener Büffel. Sein Blut sprenkelte den Schnee. Reglos blieb er liegen.
    „Ist er tot?", fragte Merle.
    Vermithrax stapfte durch den Schnee auf die Barke zu und blickte von oben auf den Sphinx hinab.
    „Sieht ganz so aus."
    „Glaubst du, da drinnen sind noch mehr?"

    „Ich schau nach." Damit näherte er sich der Barke in Lauerstellung, tief am Boden und mit gesträubter Mähne.
    „Wenn die Barke nur ein Aufklärer war, was machte dann ein Sphinx an Bord?", fragte die Königin.
    „Für solche Aufgaben ist normalerweise ein Priester zuständig."
    Merle kannte sich in der Hierarchie des Ägyptischen Imperiums nicht allzu gut aus, doch selbst sie wusste, dass die Sphinxe für gewöhnlich nur die wichtigsten Positionen innehatten. Lediglich die Obersten der Horuspriester standen zwischen ihnen und dem Pharao Amenophis.
    Vermithrax erklomm so geschmeidig wie ein Katzenjunges den Rumpf. Nur das leise Scharren seiner Krallen auf dem Metall verriet ihn. Doch falls im Inneren tatsächlich noch jemand lebte, hatten ihre Stimmen ihn ohnehin längst gewarnt.
    „Warum ein Sphinx?", fragte die Königin noch einmal.
    „Woher soll ich das wissen?"
    Junipas Hand tastete nach Merles. Ihre Finger schlossen sich umeinander. Trotz der Anspannung war Merle erleichtert. Zumindest für den Augenblick schien das Steinerne Licht seinen Einfluss auf Junipa verloren zu haben. Oder sein Interesse.
    Vermithrax überwand lauernd das letzte Stück bis zur offenen Luke. Er schob seine riesige Vorderklaue an den Rand der Öffnung, reckte den Hals vor und blickte hinunter.
    Der Angriff, den sie alle erwarteten, blieb aus.
    Vermithrax umrundete jenen Teil der Luke, der nicht von der offenen Klappe verdeckt wurde. Von allen Seiten blickte er ins Innere.
    „Ich friere so schrecklich!" Junipas Stimme klang, als wäre das Mädchen in Gedanken weit entfernt, so als hätte ihr Verstand noch immer nicht verarbeitet, was geschehen war.
    Merle zog sie enger an sich, doch ihr Blick haftete weiterhin auf Vermithrax.
    „Er wird doch nicht da reingehen", sagte die Königin.
    Um was wollen wir wetten?, dachte Merle.
    Der Obsidianlöwe machte einen abrupten Satz. Sein gewaltiger Körper passte gerade eben durch die Öffnung, und als er darin verschwand, ein strahlender Umriss aus Glut, wurde die Umgebung auf einen Schlag grau und farblos. Erst jetzt wurde Merle bewusst, wie sehr seine Helligkeit die Eisoberfläche um sie herum zum Glitzern gebracht hatte.
    Sie wartete auf einen Laut, Geräusche eines Kampfes, Schreien und Brüllen und das hohle Scheppern von Körpern, die von innen gegen den Rumpf der Barke prallten. Doch es blieb ruhig, so ruhig, dass sie sich nun erst recht Sorgen um Vermithrax machte.
    „Glaubst du, ihm ist etwas passiert?", fragte sie die Königin, sah dann aber, dass Junipa erschöpft die Schultern zuckte, weil Merle die Frage laut ausgesprochen hatte. Natürlich, Junipa wusste ja noch gar nicht, was mit Merle geschehen war! Vor ihrer Begegnung in der Hölle hatten sie sich das letzte Mal in Venedig gesehen, ihrer beider Heimatstadt. Damals war die Fließende Königin auch für Merle nicht mehr als eine Legende gewesen, eine unbegreifliche Macht, von der die Venezianer nur ehrfurchtsvoll flüsterten. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Königin eines Tages - tatsächlich nur wenige Stunden später - in ihrem Verstand wohnen würde.
    Seitdem war so viel geschehen. Merle wünschte sich nichts mehr, als Junipa von ihren Abenteuern zu erzählen, von ihrer Reise durch die Hölle, wo sie Hilfe gegen das übermächtige Imperium hatte finden wollen. Doch stattdessen hatten in den Tiefen der Erde nur Elend und Gefahr und das Steinerne Licht auf sie gewartet. Aber auch Junipa. Merle brannte darauf, ihre Geschichte zu erfahren. Sie wollte endlich zur Ruhe

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