Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
hasteten auf die Luke zu, aber Seths Stimme ließ sie abermals innehalten.
„Ich will keinen Kampf. Nicht jetzt. Und ganz bestimmt nicht hier."
„Was dann?" Merles Stimme zitterte leicht.
Seth schien abzuwägen. „Antworten." Seine Hand wies in die Weite der Eisebene. „Auf all das hier."
„Wir wissen nichts darüber", sagte Vermithrax.
„Vorhin habt ihr etwas anderes behauptet. Oder solltet ihr den armen Simphater in seinen letzten Augenblicken belogen haben? Du kennst denjenigen, der für das hier verantwortlich ist. Du hast gesagt, er sei euer Freund."
„Auch uns liegt nichts an einem Streit mit dir, Horuspriester", sagte Vermithrax. „Aber wir sind auch nicht deine Sklaven."
Der Priester war kein Feind wie jeder andere, und es war nicht Vermithrax' Art, einen Gegner zu unterschätzen.
Seth lächelte böse. „Du bist Vermithrax, nicht wahr? Den die Venezianer den Uralten Verräter nennen. Du hast dein Volk der sprechenden Steinlöwen vor langer Zeit in Afrika zurückgelassen, um Krieg gegen Venedig zu führen. Sieh mich nicht so entgeistert an, Löwe - ja, ich kenne dich. Und was den Sklaven angeht, der du nicht sein willst: Ich habe kein Verlangen, einen wie dich zum Diener zu haben. Deine Art ist zu gefährlich und unberechenbar. Eine schmerzliche Erfahrung, die wir auch mit dem Rest deines Volkes machen mussten. Das Imperium hat ihre Kadaver in den Leichenmühlen von Heliopolis zu Sand zermahlen und an den Ufern des Nils verstreut."
Selbst wenn Merle gewollt hätte: Sie konnte sich nicht rühren. Ihre Gelenke waren wie eingefroren, sogar ihr Herz schien stillzustehen. Sie starrte Vermithrax an, sah den Zorn, den Hass, die Verzweiflung in seinen glosenden Lavaaugen. Seit sie ihn kannte, hatte ihn die Hoffnung angetrieben, eines Tages zu seinem Volk zurückzukehren.
„Du lügst, Priester", sagte er tonlos.
„Mag sein. Vielleicht lüge ich. Viel eicht aber auch nicht."
Vermithrax setzte zum Sprung an, aber die Königin rief durch Merles Mund: „Nicht! Wenn er tot ist, kommen wir niemals lebend hier weg!"
Einen Moment lang sah es aus, als gäbe es nichts, das Vermithrax aufhalten könnte. Sogar Seth trat einen Schritt zurück. Dann jedoch beherrschte sich der Löwe, behielt seine sprungbereite Stellung aber bei.
„Ich werde herausfinden, ob du die Wahrheit sagst, Priester. Und falls ja, werde ich dich finden. Dich und alle, die dafür verantwortlich sind."
Seth lächelte erneut. „Heißt das, wir können unsere persönlichen Gefühle jetzt zurückstellen und zum Kern unseres Handels kommen? Ihr verratet mir, was in Ägypten geschehen ist - und ich bringe euch in der Barke fort von hier."
Vermithrax schwieg, aber Merle sagte langsam: „Einverstanden."
Seth zwinkerte ihr zu, sah dann wieder den Löwen an. „Habe ich dein Wort, Vermithrax?"
Der Obsidianlöwe zog eine Vorderkralle über das Metall der Barke. Zurück blieben vier fingerbreite Furchen, so tief, wie Merles Zeigefinger lang war. Er nickte, einmal nur und sehr verbissen.
In den Leichenmühlen zu Sand zermahlen, hallte es in Merles Gedanken wider. Ein ganzes Volk.
Konnte das überhaupt wahr sein?
„Ja", sagte die Königin. „Dies ist das Imperium. Seth ist das Imperium."
Vielleicht lügt er, dachte sie.
„Wer weiß."
Aber du glaubst nicht daran?
„Vermithrax wird die Wahrheit irgendwann herausfinden. Was ich glaube, ist unwichtig."
Merle wollte zu Vermithrax gehen und seinen mächtigen Hals umarmen, ihn trösten und mit ihm weinen. Doch der Löwe stand da wie zu Eis erstarrt.
Sie gab Junipa ein Zeichen und kletterte hinter ihr her ins Innere der Barke.
Untersee
Serafin und Unke folgten den Meerjungfrauen in die Tiefen des Ozeans.
Beide trugen Tauchhelme, durchsichtige Kugeln, die am Hals mit einem Lederzug verschnürt wurden. Doch was wie Glas aussah, war tatsächlich gehärtetes Wasser und stammte aus dem Vermächtnis der Subozeanischen Reiche, deren Untergang Jahrtausende zurücklag. Als Serafin gezögert hatte, den schlichten Kugeln sein Leben anzuvertrauen, hatte Unke ihm klargemacht, dass auch Merle mithilfe eines solchen Helmes durch die Kanäle Venedigs getaucht war; nur so war sie den Häschern des Imperiums entkommen.
Serafin hatte ein paar Mal tief Luft geholt, ehe er den Helm über seinen Kopf gestülpt hatte, nur um gleich darauf festzustellen, dass es unnötig war - unter dem gehärteten Wasser, das sich trotz allem gläsern anfühlte, konnte er mühelos weiteratmen. Die Kugel beschlug nicht
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