Vortex: Roman (German Edition)
1
SANDRA UND BOSE
Nie wieder, dachte Sandra Cole, als sie in ihrem schwülheißen Apartment aufwachte. Heute würde sie zum letzten Mal zur Arbeit fahren, um den Tag mit ausgemergelten Prostituierten zu verbringen, mit Suchtkranken in den ersten schweißtreibenden Stadien des Entzugs, mit notorischen Lügnern und Kriminellen. Ja, heute würde sie ihre Kündigung einreichen.
Sie wachte jeden Morgen mit diesem Gedanken auf. Gestern hatte sie nicht gekündigt. Und heute würde sie es auch nicht tun. Aber irgendwann … Nie wieder. Beim Duschen und Anziehen kostete sie die Vorstellung aus. Auch noch, als sie den ersten Kaffee trank und das rasche Frühstück aus Joghurt, Toast und Butter aß. Dann war sie so weit, dem ungeschminkten Tag ins Gesicht zu sehen. Der Tatsache, dass alles beim Alten blieb.
Gerade als sie den Aufnahmebereich der State Care passierte, meldete ein Polizist den Jungen zur Beurteilung an.
Die ganze nächste Woche über sollte der Junge in ihrer Obhut bleiben: Man hatte die Formulare bereits an die Liste ihrer morgendlichen Fälle geheftet. Er hieß Orrin Mather und war angeblich nicht gewalttätig. Tatsächlich wirkte er verängstigt: Die Augen waren geweitet und feucht, der Kopf ruckte nach links und rechts wie bei einem Vogel, der das Terrain sichert.
Sandra konnte sich nicht an den Polizisten erinnern – ein neues Gesicht offenbar. Was an sich nichts Ungewöhnliches war, denn bei der Polizei von Houston riss man sich nicht darum, Kleinkriminelle der texanischen Fürsorge zu überstellen. Dieser Beamte allerdings schien persönlich engagiert: Der Junge ging nicht auf Abstand, sondern auf Tuchfühlung, als suche er Schutz. Der Polizist ließ die Hand auf der Schulter des Jungen und sagte etwas, das Sandra nicht hören konnte, den Jungen aber sichtlich beruhigte.
Die beiden hätten kaum gegensätzlicher sein können. Der Polizist war groß, von kräftiger Statur, aber nicht dick, hatte dunkle Haut, dunkles Haar und dunkle Augen. Der Junge war deutlich kleiner und so dünn, dass er sich in dem Gefängnis-Overall verlor. Und er war bleich wie jemand, der die letzten sechs Monate in einer Höhle gehaust hatte.
Der Diensthabende an der State-Care-Aufnahme war Jack Geddes, der, wie gemunkelt wurde, nebenher noch als Rausschmeißer in einer Bar jobbte. Geddes ging nicht selten grob mit Patienten um – zu grob, fand Sandra. Als er Orrin Mathers Unruhe bemerkte, ging er, gefolgt von der diensthabenden, mit Sedativa und Spritzen bewaffneten Schwester, sofort auf den Jungen zu.
Der Polizist – und das war sehr ungewöhnlich – stellte sich unmissverständlich vor Orrin. »Das ist nicht nötig«, sagte er; seine Stimme hatte einen leichten ausländischen Akzent. »Ich kann Mr. Mather begleiten, wo immer er hinsoll.«
Sandra trat vor, ein wenig verlegen, weil sie erst jetzt das Wort ergriff. Sie stellte sich vor und sagte: »Zuerst müssen wir ein Aufnahmegespräch führen, Mr. Mather. Dazu gehen wir den Flur hinunter in ein bestimmtes Zimmer. Ich stelle Ihnen ein paar Fragen und mache mir Notizen. Dann weisen wir Ihnen ein eigenes Zimmer zu. Haben Sie das verstanden?«
Orrin Mather atmete vorsichtig aus und nickte. Geddes schien ziemlich verärgert, aber er zog sich wieder hinter den Schalter zurück.
Der Polizist bedachte Sandra mit einem taxierenden Blick. »Ich bin Officer Bose«, sagte er. »Ich würde gern mit Ihnen reden, wenn Orrin versorgt ist, Dr. Cole.«
»Das kann etwas dauern.«
»Ich kann warten«, sagte Bose. »Wenn es Ihnen recht ist.«
Und das war das Ungewöhnlichste von allem.
Seit zehn Tagen schon kletterten die Temperaturen in der Stadt tagsüber über 38 Grad Celsius. Die Diagnoseabteilung der State Care war klimatisiert, oft bis zur Absurdität (Sandra hatte im Büro einen Pullover liegen), doch hier fand lediglich ein kühles Rinnsal seinen Weg durch das Deckengitter. Orrin Mather schwitzte bereits, als Sandra sich ihm gegenüber an den Tisch setzte. »Guten Morgen, Mr. Mather«, sagte sie.
Beim Klang ihrer Stimme entspannte er sich ein wenig. »Sie können ruhig Orrin sagen, Ma’am.« Er hatte blaue Augen, und die Wimpern schienen etwas zu lang für das knochige Gesicht. Ein Riss in der rechten Wange verheilte gerade und hinterließ eine Narbe. »Das tun fast alle.«
»Danke, Orrin. Ich bin Dr. Cole, und wir werden uns in den nächsten Tagen unterhalten.«
»Sie entscheiden, wer mich behält?«
»Kann man so sagen. Ich erstelle das psychiatrische Gutachten.
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