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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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mildern versucht habe. Das soll nicht heißen, daß sie diesen Schock durch Klagen, sichtliche Angst oder irgend etwas klar Definierbares ausgedrückt hätte; nein, es war flüchtiger und zugleich schmerzlicher. Manchmal — vor allem in Spanien, wenn wir uns für den Strand fertig machten und sie den Badeanzug überstreifte — spürte ich, wie sie, wenn mein Blick auf ihr ruhte, leicht zusammenzuckte, als habe sie einen Schlag zwischen die Schulterblätter erhalten. Ein schnell unterdrückter Ausdruck des Schmerzes verzerrte ihre herrlichen Züge —die Schönheit ihres feinen, empfindsamen Gesichts widerstand der Zeit; aber ihrem Körper waren, obwohl sie viel schwamm und auch das klassische Ballett nicht aufgegeben hatte, die ersten Anzeichen des Alterns anzusehen — ein Prozeß, der sich, wie sie nur zu gut wußte, beschleunigen würde und irgendwann zum völligen Verfall führte. Ich weiß nicht genau, was damals meinem Gesicht anzumerken war und was sie so verletzte; ich hätte alles getan, um es zu vermeiden, denn ich liebte sie, wie ich noch einmal wiederholen möchte; aber offensichtlich war es nicht möglich. Und es war mir auch nicht möglich, ihr immer wieder zu sagen, daß sie noch genauso begehrenswert und schön sei wie eh und je; noch nie hatte ich mich so unfähig gefühlt, sie auch nur im geringsten anzulügen. Ich wußte, welchen Blick sie anschließend haben würde: Es war der traurige, demütige Blick eines kranken Tiers, das sich ein paar Schritte von der Meute zurückzieht, den Kopf auf die Pfoten legt und leise winselt, weil es weiß, daß es geschwächt ist und von seinen Artgenossen kein Mitleid zu erwarten hat.
     
     

Daniel24,3
    Die Steilküste überragt absurd senkrecht das Meer, und das Leid der Menschen nimmt kein Ende. Im Vordergrund sehe ich scharfkantige schwarze Felsen. Dahinter eine auf dem Bildschirm leicht flimmernde, undeutlich zu erkennende schlammige Oberfläche, die wir weiterhin das Meer nennen und die früher das Mittelmeer war. Mehrere Wesen bewegen sich im Vordergrund, gehen die Kammlinie der Steilküste entlang, wie es ihre Vorfahren mehrere Jahrhunderte zuvor getan hatten; sie sind nicht mehr so zahlreich und schmutziger. Sie lassen nicht locker, versuchen sich zu gruppieren, bilden Meuten oder Horden. Ihre Vorderseite ist eine Masse aus nacktem, rotem, bloßliegendem Fleisch, das von Würmern befallen ist. Bei dem geringsten Windstoß, der Körner und Sand aufwirbelt, zittern sie vor Schmerz. Manchmal gehen sie aufeinander los, verletzen sich mit Schlägen oder Worten. Nach und nach trennen sie sich von der Gruppe, ihr Schritt verlangsamt sich, und sie fallen auf den Rücken. Ihr weißer biegsamer Rücken übersteht die Berührung mit dem Felsen; dann wirken sie wie umgedrehte Schildkröten. Insekten und Vögel lassen sich auf der dem Himmel zugewandten Masse aus nacktem Fleisch nieder, picken daran und verschlingen sie; die Kreaturen leiden noch eine Zeitlang, dann regen sie sich nicht mehr. Die anderen setzen wenige Schritte von ihnen entfernt ihre Kämpfe oder ihr Treiben fort. Ab und zu nähern sie sich, um dem Todeskampf ihrer Gefährten zuzusehen; in ihrem Blick liegt nichts als leere Neugier.
    Ich verlasse das Überwachungsprogramm; das Bild verschwindet, löst sich in der Menüleiste auf. Ich habe eine neue Nachricht von Marie22:
    Der angeführte Block
    Des Auges, das sich schließt
    In dem zerschmetterten Raum
    Enthält die letzte Frist.
    3105, 35348, 23154, 7365. Licht ist zu sehen, wird heller, erstrahlt; ich stürze mich in einen Tunnel aus Licht. Ich begreife, was die Menschen spürten, wenn sie in eine Frau eindrangen. Ich begreife die Frau.
     
     

Daniel1,4
    »Es ist würdig, als Mensch über
    der Menschen Unglück nicht zu lachen,
    sondern zu wehklagen.«
    Demokritos aus Abdera
    Isabelle wurde depressiv. Natürlich war es für eine Frau, die sich von ihrem Körper verraten fühlt, nicht einfach, für eine Zeitschrift wie Lolita zu arbeiten, in der jeden Monat neue Miezen auftauchten, die immer jünger, immer arroganter und irrsinnig sexy waren. Ich erinnere mich noch, ich hatte das Problem als erster angeschnitten. Wir gingen auf dem Kamm der Steilküste von Carboneras spazieren, deren schwarze Felsen in das strahlendblaue Wasser hinabtauchen. Sie suchte keine Ausreden, keinerlei Beschönigung: Allerdings, allerdings, sie müsse in ihrem Job eine Atmosphäre aufrechterhalten, die ein gewisses Konfliktpotential und narzißtisches

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