Die Mglichkeit einer Insel
in einen seltsamen Zustand versetzte, denn ich hatte die Nase wirklich voll und war drauf und dran, alles hinzuschmeißen — wenn die Sache schiefgegangen wäre, hätte ich mich wohl sang- und klanglos aus dem Staub gemacht. Mein plötzlich erwachtes Interesse für den Film — also ein Medium, das im Gegensatz zum Showgeschäft ein Medium ohne direkten Publikumskontakt war — war ohne Zweifel das erste Anzeichen für mein Desinteresse an, um nicht zu sagen: meinen Ekel vor dem Publikum — und vermutlich vor der Menschheit im allgemeinen. Ich studierte damals meine Sketche mit Hilfe einer kleinen, auf einem Stativ befestigten Videokamera ein, die an einen Monitor angeschlossen war, auf dem ich meine Intonationen, meine Mimik, meine Gesten live überwachen konnte. Ich hatte mir seit langem ein einfaches Prinzip zu eigen gemacht: Wenn ich zu irgendeinem Zeitpunkt in Lachen ausbrach, dann hieß das, daß das Publikum an dieser Stelle höchstwahrscheinlich ebenfalls lachen würde. Während ich mir diese Kassetten ansah, stellte ich fest, daß mir dabei immer unbehaglicher zumute wurde, ein Gefühl, das manchmal in Ekel umschlug. Zwei Wochen vor der Premiere wurde mir der Grund für dieses Unbehagen plötzlich klar: Weder mein Gesicht noch der stereotype Charakter mancher Mimiken aus dem Standardrepertoire jedes Komikers, die auch ich verwenden mußte, waren daran schuld — nein, ich ertrug das Lachen nicht mehr, das Lachen als solches, diese plötzliche, heftige Verzerrung des Gesichts, die ihm augenblicklich alle Würde nimmt. Nicht umsonst ist der Mensch das einzige Lebewesen, das diese gräßliche Gesichtsverzerrung zur Schau stellt, denn er ist auch der einzige, der den Egoismus der Tiernatur überwunden und das unerträgliche höchste Stadium erreicht hat: die Grausamkeit.
Die drei Wochen, in denen ich fast jeden Abend auf der Bühne stand, waren für mich ein Leidensweg ohne Ende; zum erstenmal erfuhr ich, welch furchtbarer Schmerz sich hinter dem Ausdruck ein trauriger Clown verbirgt; zum erstenmal verstand ich wirklich die Menschheit. Ich hatte das Räderwerk der Maschine bloßgelegt und konnte es, wann immer ich wollte, in Bewegung setzen. Jeden Abend, ehe ich auf die Bühne ging, schluckte ich ein ganzes Röhrchen Xanax. Jedesmal, wenn das Publikum lachte (das konnte ich voraussehen, ich dosierte die Lacheffekte methodisch, schließlich war ich ein Profi), fühlte ich mich gezwungen, den Blick abzuwenden, um diese blöden Gesichter nicht zu sehen, Hunderte vor Haß zusammenzuckende Gesichter.
Daniel24,4
Dieser Teil von Daniels Bericht ist für uns vermutlich ziemlich schwer verständlich. Die Videokassetten, auf die er sich bezieht, sind übertragen und seinem Lebensbericht als Anhang beigefügt worden. Ich habe diese Dokumente manchmal zu Rate gezogen. Da ich, genetisch gesehen, von Daniel1 abstamme, habe ich natürlich die gleichen Züge, das gleiche Gesicht; auch die Mimik (obwohl ich in einer nicht sozial geprägten Umgebung lebe und meine Mimik daher natürlich begrenzter ist) ist im wesentlichen die gleiche; aber diese urplötzliche, von einem spezifischen Glucksen begleitete Verzerrung des Gesichtsausdrucks, die er Lachen nannte, kann ich nicht nachvollziehen; ich kann mir nicht einmal dessen Mechanismus vorstellen.
Die Aufzeichnungen meiner Vorgänger, von Daniel 2 bis Daniel23, bezeugen im großen und ganzen das gleiche Unverständnis angesichts dieses Phänomens. Daniel2 und Daniel3 behaupten, daß sie noch imstande sind, unter Einfluß gewisser Getränke die Sache zu reproduzieren; aber für Daniel4 handelt es sich bereits um etwas Unzugängliches. Es gibt mehrere Untersuchungen über das Verschwinden des Lachens beim Neo-Menschen; alle stimmen darin überein, daß es sehr schnell erfolgt ist.
Eine ähnliche Entwicklung, auch wenn sie sich langsamer vollzog, hat man in bezug auf die Tränen beobachten können, ein weiteres Charakteristikum des Menschengeschlechts. Daniel bezeugt, daß er bei einer ganz bestimmten Gelegenheit geweint hat (beim Unfalltod seines Hundes Fox, der bei der Berührung des Elektrozauns einen tödlichen Schlag bekam); ab Daniel10 ist davon nicht mehr die Rede. Ebenso wie Daniel1 das Lachen zu Recht als symptomatisch für die menschliche Grausamkeit betrachtet, scheinen die Tränen bei dieser Spezies mit dem Mitleid verbunden zu sein. Man vergießt nie Tränen ausschließlich über sich selbst, hat ein anonymer Autor des Menschengeschlechts irgendwo
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