Die Mglichkeit einer Insel
alle Gesichter aufleuchten, alle Schwierigkeiten sich verflüchtigen, und die überall aufgenommen werden, als regierten sie die Welt, werden ganz selbstverständlich zu furchtbar egoistischen, eitlen, selbstzufriedenen Geschöpfen. Die körperliche Schönheit spielt hier genau die gleiche Rolle wie der Geburtsadel im Ancien regime, und auch wenn sich hübsche Mädchen beim Heranwachsen möglicherweise für kurze Zeit des rein zufälligen Ursprungs ihrer Vorrangstellung bewußt werden, tritt diese Erkenntnis meist sehr schnell hinter dem Gefühl angeborener, natürlicher, instinktiver Überlegenheit zurück, das sie weit außerhalb und vor allem sehr hoch über dem Rest der Menschheit ansiedelt. Da jeder aus ihrer Umgebung nur das Ziel hat, ihnen jeglichen Kummer zu ersparen und allen ihren Wünschen zuvorzukommen, ist es völlig logisch, daß hübsche Mädchen den Rest der Welt als eine Schar von Menschen betrachten, die ihnen zu Diensten ist, wobei ihnen selbst nur die Aufgabe zufällt, ihr eigenes erotisches Kapital zu erhalten — ehe sie einen jungen Mann kennenlernen, der sich dieser Ehre würdig erweist. Das einzige, das sie in moralischer Hinsicht retten kann, ist die Übernahme der konkreten Verantwortung für ein schwächeres Wesen, für dessen körperliche Bedürfnisse, Gesundheit und Überleben sie persönlich zu sorgen haben — ein solches Wesen kann ein jüngerer Bruder, eine jüngere Schwester, ein Haustier oder sonst irgend etwas sein.
Esther war bestimmt nicht wohlerzogen im üblichen Sinn des Wortes, sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, einen Aschenbecher zu leeren oder Essensreste abzuräumen, und sie ließ ohne Hemmungen das Licht in den Zimmern brennen, die sie gerade verlassen hatte (es ist vorgekommen, daß ich ihr in meiner Villa in San Jose von Zimmer zu Zimmer gefolgt bin und siebzehn Lichtschalter betätigen mußte); es kam auch nicht in Frage, sie zu bitten, etwas einzukaufen, aus einem Geschäft, in das sie ging, einen Artikel mitzubringen, der nicht für ihren persönlichen Gebrauch bestimmt war, oder ganz allgemein, sie um einen Gefallen zu bitten. Wie alle hübschen Mädchen war Esther im Grunde nur zum Vögeln da, und es wäre absurd gewesen, etwas anderes von ihr zu erwarten oder in ihr etwas anderes zu sehen als ein verwöhntes, umhegtes Luxusgeschöpf, dem alle Sorgen und alle langweiligen oder mühseligen Arbeiten abgenommen wurden, damit es sich ausschließlich seiner sexuellen Aufgabe widmen konnte. Dennoch war sie längst nicht so arrogant, so egoistisch und so kalt, oder um mit Baudelaire zu sprechen, kein so unausstehliches kleines Luder wie die meisten hübschen Mädchen; sie war sich der Krankheit, der Schwäche und des Todes bewußt. Auch wenn Esther unglaublich schön, erotisch und begehrenswert war, brachte sie dennoch Verständnis für das Gebrechen der Tiere auf, weil sie sie kannte; das wurde mir an jenem Abend klar, und da begann ich sie wirklich zu lieben. Das körperliche Begehren, auch wenn es noch so stark ist, hat bei mir nie ausgereicht, um mich zu verlieben, es konnte nur dann das höchste Stadium, die Liebe, erreichen, wenn es dank einer wundersamen Kombination von Mitgefühl für das geliebte Wesen begleitet war; natürlich verdient jedes Lebewesen schon einfach deshalb Mitgefühl, weil es im Leben steht und dadurch endlosem Leid ausgesetzt ist; aber angesichts eines jungen Menschen mit blühender Gesundheit erscheint diese Überlegung ziemlich theoretisch. Aufgrund ihres Nierenleidens, aufgrund ihrer unmöglich zu erratenden, aber dennoch existierenden körperlichen Schwäche konnte Esther in mir ungeheucheltes Mitgefühl hervorrufen, wenn der Wunsch in mir aufkam, mich dieser Empfindung zu überlassen. Da sie selbst mitfühlend war und gelegentlich sogar einen Anflug von Güte zeigte, konnte sie mir ebenfalls Achtung einflößen, und damit waren alle Voraussetzungen gegeben. Denn ich bin kein von Leidenschaften erfüllter Mensch, zumindest nicht grundsätzlich, ich konnte zwar jemanden begehren, der durchaus verachtenswert war, hatte mehrfach Mädchen gevögelt, nur um ihnen meine Stärke zu beweisen und sie ganz einfach zu beherrschen; ich hatte auch diese nicht eben lobenswerte Einstellung in meinen Sketchen verwandt und dabei sogar ein zweifelhaftes Verständnis für Gewalttäter aufgebracht, die ihr Opfer töten, nachdem sie es sexuell mißbraucht haben. Aber um jemanden lieben zu können, habe ich immer Achtung für ihn empfinden müssen, im
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