Die Mglichkeit einer Insel
fort, nein, sie hatten auch nicht mehr das Recht, sich gegen eine Welt aufzulehnen, die sie hemmungslos zermalmte, indem sie sie zu hilflosen Opfern jugendlicher Gewalttäter machte, ehe man sie in abscheuliche Sterbehospize abschob, wo sie von stumpfsinnigen Pflegern gedemütigt und mißhandelt wurden, und trotz alledem war es ihnen nicht erlaubt, sich aufzulehnen, denn auch die Auflehnung — genauso wie die Sexualität, die Lust oder die Liebe — schien etwas zu sein, auf das nur junge Leute Anspruch hatten, für alle anderen schien sie irrelevant zu sein, denn eine Sache, für die sich das Interesse der Jugend nicht mobilisieren ließ, war von vornherein ein verlorener Kampf, kurz gesagt, alte Leute wurden in allem wie bloßer Müll behandelt, dem man nur noch ein elendes, bedingtes und immer schärfer begrenztes Überleben zugestand. In meinem Drehbuch Das Defizit der Kranken- und Sozialversicherung, aus dem nichts geworden war — es war übrigens das einzige von allen meinen Projekten, aus dem nichts wurde, und das schien mir durchaus bezeichnend zu sein, fuhr ich wütend fort —, stachelte ich die alten Leute an, sich gegen die Jugend aufzulehnen, sie auszunutzen und sie zu unterdrücken. Warum sollte man zum Beispiel die lugendlichen, sowohl Mädchen wie Jungen, die einem blinden Konsumrausch verfallen und immer auf Taschengeld erpicht waren, nicht zur Prostitution zwingen, der einzigen Möglichkeit für sie, wenigstens in begrenztem Maß die ermüdende Arbeit und all die ungeheuren Anstrengungen wettzumachen, die für ihr Wohlergehen aufgewandt worden waren? Und warum sollte man in einer Zeit, da die Empfängnisverhütung gut funktionierte und das Risiko genetischer Degeneration vollkommen lokalisiert war, das demütigende, absurde Inzesttabu eigentlich aufrechterhalten? Das sind relevante Fragen, konkrete Moralprobleme, rief ich zornig; das ist etwas anderes als Larry Clark.
Je mehr ich mich ereiferte, um so sanfter wurde sie; und obwohl ich mich mit Haut und Haar für die alten Leute stark machte, setzte sie sich nicht in gleichem Maß für die Jugend ein. Darauf folgte ein langes, ergreifendes und immer zärtlicher werdendes Gespräch, zunächst in dieser Bar, dann in einem Restaurant, dann in einer anderen Bar und schließlich im Hotelzimmer; ausnahmsweise vergaßen wir darüber sogar, uns zu lieben. Es war unser erstes richtiges Gespräch und im übrigen, wie mir schien, das erste richtige Gespräch, das ich seit Jahren mit irgend jemandem geführt hatte, das letzte hatte wohl in der Zeit stattgefunden, als ich mit Isabelle zusammenzog; überhaupt habe ich nur mit Frauen, die ich liebte, wirkliche Gespräche führen können, mit niemand anderem, und im Grunde erschien es mir auch völlig normal, daß der Gedankenaustausch mit jemandem, der meinen Körper nicht kennt und nicht in der Lage ist, ihm Frustrationen oder im Gegenteil höchste Freuden zu verschaffen, etwas Gezwungenes hat und letztlich unmöglich ist. Denn wir sind Körper, sind im wesentlichen und fast ausschließlich Körper, und unsere körperliche Verfassung liefert die wahre Erklärung für fast alle unsere geistigen und moralischen Anschauungen. So erfuhr ich, daß Esther im Alter von dreizehn Jahren an einem schweren Nierenleiden erkrankt war, das eine lange Operation erfordert hatte, und daß eine ihrer Nieren endgültig verkümmert war, was Esther zwang, mindestens zwei Liter Wasser am Tag zu trinken, und daß auch die zweite Niere, die bisher noch gesund war, jederzeit Schwächen zeigen konnte; das war, davon war ich überzeugt, ein wesentliches Detail und vermutlich der Grund dafür, warum sie sich in sexueller Hinsicht nicht gemäßigt hatte: Sie kannte den Preis für das Leben und wußte, wie kurz es war. Ich erfuhr auch, und das erschien mir noch wichtiger, daß sie einen Hund gehabt hatte, den sie in Madrid auf der Straße aufgelesen hatte, und daß sie sich, seit sie zehn war, um ihn gekümmert hatte; er war im vorigen Jahr gestorben. Bildschöne Mädchen, die von allen Männern stets zuvorkommend und mit übertriebener Aufmerksamkeit behandelt werden, sogar von jenen — das ist bei weitem die Überzahl —, die keinerlei Hoffnung mehr haben, eine Gunst sexueller Art von ihnen erwarten zu dürfen; und um es ehrlich zu sagen, von diesen Männern erst recht, und zwar mit einer widerlichen Form von Verehrung, die bei manchen Typen um die Fünfzig geradezu an Vergreisung grenzt, bildschöne Mädchen also, bei deren Anblick
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