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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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eingesetzt worden, der sie für das perfekte Management einer Körperschaft für unerläßlich hielt. »Da können wir so richtig die Sau rauslassen!« hatte der Prophet handschriftlich für mich hinzugesetzt.
    Esther mußte wie vorhergesehen in jenem Monat ein paar Prüfungen ablegen und konnte mich nicht begleiten. Und da sie sowieso nicht viel Zeit gehabt hätte, um mich zu sehen, nahm ich die Einladung ohne zu zögern an — schließlich war ich jetzt im Ruhestand und konnte ein bißchen auf Reisen gehen, soziologische Exkursionen machen und versuchen, ein paar reizvolle oder witzige Momente zu erleben. Ich hatte in meinen Sketchen nie Sekten in Szene gesetzt, dabei handelte es sich um ein typisch modernes Phänomen, sie verbreiteten sich trotz aller rationalistischen Kampagnen und der vielen Warnungen, nichts schien sie aufhalten zu können. Ich spielte eine Weile mit dem Gedanken, einen Sketch über die Elohimiten zu verfassen, verwarf ihn aber bald wieder und kaufte mir ein Flugticket.
    Es war eine Zwischenlandung auf Gran Canaria vorgesehen, und während wir über der Insel kreisten, um auf die Landeerlaubnis zu warten, beobachtete ich neugierig die Dünen von Maspalomas. Die riesigen Sandformationen senkten sich in den strahlendblauen Ozean hinab; wir flogen in geringer Höhe, und ich konnte die Figuren im Sand erkennen, die durch den Wind gebildet worden waren und die manchmal die Form von Buchstaben, manchmal die von Tieren oder menschlichen Gesichtern hatten; man konnte nicht umhin, sie als Wahrsagezeichen zu interpretieren, und ich empfand dabei trotz oder wegen der einheitlichen azurblauen Farbe eine gewisse Beklemmung.
    Das Flugzeug leerte sich auf dem Flughafen von Las Palmas fast ganz; dann stiegen ein paar Passagiere ein, die von Insel zu Insel flogen. Die meisten von ihnen wirkten eher wie Weltenbummler im Stil australischer backpackers, die mit dem Reiseführer Let's go Europe und einem Lageplan aller McDonald's ausgerüstet waren. Sie verhielten sich ruhig, auch sie betrachteten die Landschaft, wechselten halblaut kluge oder poetische Bemerkungen. Kurz vor der Landung überflogen wir eine Vulkanzone mit dunkelroten bizarren Felsen.
    Patrick wartete in der Empfangshalle des Flughafens von Arrecife auf mich, er trug eine Hose und eine weiße Tunika mit dem aufgestickten bunten Stern der Sekte und lächelte mir strahlend zu — ich hatte den Eindruck, als habe er schon fünf Minuten vor meiner Ankunft zu lächeln begonnen, und tatsächlich lächelte er immer noch ohne ersichtlichen Grund, als wir über den Parkplatz gingen. Er wies auf einen weißen Toyota Minivan, der ebenfalls mit dem bunten Stern verziert war. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz: Auf Patricks Gesicht strahlte immer noch das gleiche unmotivierte Lächeln; während wir langsam in einer Schlange auf den Parkscheinautomaten zufuhren, trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad und bewegte den Kopf hin und her, als habe er eine Melodie im Kopf.
    Wir fuhren über eine tiefschwarze, fast bläulich wirkende Ebene, die von plumpen, kantigen, kaum von der Erosion angegriffenen Felsen übersät war, als er das Wort ergriff. »Du wirst schon sehen, dieses Seminar ist toll …«, sagte er halblaut, als spreche er zu sich selbst oder als vertraue er mir ein Geheimnis an. »Hier sind ganz besondere Schwingungen … Das ist wirklich ein echtes geistiges Abenteuer.« Ich stimmte ihm höflich zu. Seine Bemerkung überraschte mich nur halb: In der New-Age-Literatur wird allgemein davon ausgegangen, daß Vulkanlandschaften von Erdströmen durchzogen werden, für die die meisten Säugetiere — und insbesondere die Menschen — empfänglich sind; es wird behauptet, daß sie unter anderem die Promiskuität fördern. »Genau das, genau das …«, sagte Patrick immer noch fast ekstatisch, »wir sind die Söhne des Feuers.« Ich enthielt mich einer Antwort.
    Kurz bevor wir ankamen, fuhren wir an einem schwarzen Sandstrand entlang, der mit kleinen weißen Steinen übersät war; ich muß zugeben, daß das seltsam und sogar ziemlich verwirrend war. Ich blickte erst sehr aufmerksam hin, dann wandte ich den Kopf ab; diese unerwartete Umkehrung der Werte schockierte mich ein wenig. Wenn das Meer rot gewesen wäre, hätte ich das vermutlich eher gelten lassen können; aber es war noch immer genauso hoffnungslos blau.
    Die Straße machte plötzlich eine abrupte Biegung in Richtung des Landesinneren, und fünfhundert Meter weiter hielten wir vor einem drei

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