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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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ausgesetzt ist; manche Forscher haben darin den Beweis gesehen, daß es nicht nur eine einzige Realität gibt. Ihnen zufolge geben unsere Träume einen Einblick in »Paralleluniversen« im Sinne von Everett-De Witt, das heißt, andere Abzweigungen beobachtbarer Phänomene, die anläßlich gewisser Tagesereignisse aufgetaucht sind; die Träume wären demnach nicht Ausdruck eines Begehrens oder einer Angst, sondern eine geistige Projektion konsistenter Ereignissequenzen, die mit der globalen Entwicklung der Wellenfunktion des Universums vereinbar, aber nicht direkt nachweisbar sind. Nichts deutete in dieser Hypothese daraufhin, was es den Träumen ermöglicht, die üblichen Grenzen der kognitiven Funktion zu überschreiten, die einem gegebenen Beobachter den Zugang zu den nicht nachweisbaren Ereignissequenzen in seinem eigenen Zweig des Universums verwehren; im übrigen konnte ich mir nicht vorstellen, was in meinem Dasein zu einem derart divergenten Zweig des Universums hätte führen können.
    Anderen Interpretationen zufolge sind einige unserer Träume anderer Art als jene, die die Menschen hatten; sie sind künstlichen Ursprungs, spontane Produktionen halbgeistiger Formen, die durch die modifizierbare Verflechtung elektronischer Elemente des Netzes hervorgebracht werden. Ein riesiger Organismus sei im Entstehen begriffen und warte darauf, ein allgemeines elektronisches Bewußtsein zu bilden, könne sich aber zur Zeit nur durch die Produktion von Traumwellenketten manifestieren, die durch entwicklungsfähige Untergruppen des Netzes hervorgebracht würden und gezwungen waren, sich über die Übertragungskanäle zu verbreiten, die die Neo-Menschen geöffnet hatten; daher versuche er die Öffnung dieser Kanäle unter Kontrolle zu bekommen. Wir selbst waren unvollständige Wesen, Übergangswesen, deren Bestimmung es war, das Anbrechen einer digitalen Zukunft vorzubereiten. Was auch immer diese paranoide Hypothese für sich haben mag, fest steht jedenfalls, daß eine Softwaremutation stattgefunden hat, und zwar vermutlich zu Beginn der Zweiten Verringerung, und daß sie zunächst das Codierungssystem angegriffen hat, ehe sie sich nach und nach auf alle Programmebenen des Netzes ausbreitete; niemand wußte genau, welche Ausmaße sie angenommen hatte, vermutlich aber sehr große, und die Betriebssicherheit unseres Übertragungssystems war bestenfalls sehr zufallsbedingt geworden.
    Die Gefahr der Überproduktion von Träumen war seit der Zeit der Gründer registriert worden und ließ sich auch auf einfachere Weise durch die Bedingungen absoluter physischer Isolation erklären, unter denen wir zu leben berufen waren. Kein wirksames Gegenmittel war bekannt. Der einzige Schutz bestand darin, das Senden und Empfangen von Nachrichten zu vermeiden, jeden Kontakt mit der Gemeinschaft der Neo-Menschen abzubrechen und sich auf seine eigenen physiologischen Elemente zu konzentrieren. Ich zwang mich dazu und installierte die wichtigsten biochemischen Kontrollsysteme: Es dauerte mehrere Wochen, bis die Produktion meiner Träume zu ihrem normalen Niveau zurückfand und ich mich wieder auf den Lebensbericht von Daniel1 und meinen Kommentar konzentrieren konnte.
     
     

Daniel1,16
    »Um netstat umfunktionieren zu können,
    muß man darin aufgenommen werden;
    und dafür bleibt einem keine andere Wahl,
    als das ganze userland umzufunktionieren.«
    kdm.fr.st
    Ich hatte die Existenz der Elohimiten fast vergessen, als ich einen Anruf von Patrick bekam, der mich daran erinnerte, daß das Winterseminar in zwei Wochen begann, und mich fragte, ob ich nach wie vor die Absicht habe, daran teilzunehmen. Ich hätte ein Einladungsschreiben bekommen, einen VIP-Brief, fügte er hinzu. Ich fand die Einladung schnell in meinem Stapel: Das Papier war mit einem Wasserzeichen versehen, das nackte, zwischen Blumen tanzende junge Mädchen darstellte. Seine Heiligkeit der Prophet lud mich und ein paar andere befreundete illustre Persönlichkeiten dazu ein, wie in jedem Jahr den Jahrestag der »wunderbaren Begegnung« — der Begegnung mit den Elohim, nehme ich an — mit ihm zu feiern. Es sei eine ganz besondere Feier, bei der noch unbekannte Einzelheiten über die Errichtung des Botschaftsgebäudes in Gegenwart von Anhängern aus der ganzen Welt enthüllt würden, die von neun Erzbischöfen und neunundvierzig Bischöfen angeführt würden — diese Ehrentitel hatten nichts mit ihrer tatsächlichen Funktion innerhalb der Organisation zu tun; sie waren von Flic

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