Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
neuerdings. Eine Kleinigkeit fehle ihm, das hatte er lächelnd gesagt. Er hatte nur auf den Mai gewartet.
Der Wind drehte an der Hakenterrasse und fuhr ihnen jetzt von unten herauf unmittelbar ins Gesicht. Wilhelm wollte nicht, dass sie den zweiten Apfel schnitt und entkernte, er wollte richtig zubeißen. Sie reichte ihm den Apfel ganz.
Und der Dicke da, ist der nicht großartig? Wilhelm packte sein Fernglas aus. Er verfolgte den riesigen Frachter, er schwieg ungewöhnlich lang. Helene überlegte, ob sie ihm sagen konnte, dass sie fror; es würde ihm die Laune verderben, aber er verzog auch so den Mund. Der Name stört ein bisschen, Arthur Kunstmann. Du weißt, wer Kunstmann ist?
Helene schüttelte unbestimmt den Kopf. Wilhelm hob wieder sein Fernglas hoch. Größte Reederei Preußens. Na, das ändert sich schon.
Warum?
Fritzen & Sohn machen das bessere Geschäft. Plötzlich brüllte Wilhelm: Tempo, Jungs! Er schlug sich auf die Schenkel, als könne irgendein Ruderer dort unten ihn von hier oben hören. Die sind zu langsam, unsere Jungs. Wilhelm ließ sein Fernglas sinken. Interessiert dich nicht? Verwundert und mit ein wenig Mitleid sah er Helene an, die auf die Entfernung gerade so erkennen konnte, dass es sich unten am gegenüberliegenden Ufer um einen Achter handelte. Vielleicht würde er ihr sein Fernglas reichen, damit sie an seiner Freude teilhaben konnte? Aber Wilhelm war zu der Überzeugung gelangt, dass Helene sich nicht für das Rudern interessierte. Er klemmte sich das Fernglas vor die Augen und jubelte. Gummi Schäfer und Walter Volle, die werden für uns siegen. Tempo, Tempo! Einfach schade, dass ich hier die letzten Handschläge überwachen muss, im August wär ich zu gern in Berlin.
Unsere Jungs? Warum siegen, was bedeutet dir das? Helene versuchte nicht weiter auf das Schreien des Säuglings zu achten und folgte Wilhelms Blick hinunter zum Wasser.
Das verstehst du nicht, Kind. Wir sind die Besten. Das schöne Geschlecht hat keinen Sinn für Wettkämpfe, aber wenn der Gummi erstmal Gold geholt hat, dann wirst du schon sehen, was los ist.
Was ist dann los?
Alice, Schätzchen? Wilhelm ließ das Fernglas sinken, er sah Helene streng an. Er sagte es drohend, er drohte Helene gerne aus Spaß, wenn sie ihm zu viele Fragen stellte. Helene konnte nicht lächeln. Schon, wenn sie an die bevorstehende Nacht dachte, ihre erste gemeinsame Nacht als Mann und Frau, gelang ihr der einfachste Blick nicht mehr. Womöglich empfand er ihr Nachfragen als Zweifel an dem, was er sagte, auch als Zweifel an seiner Freude. Gewiss sollte seine Frau nicht an ihm zweifeln, sie sollte ihn achten und hin und wieder freudig für ihn schweigen können. Ein wenig Jubel wäre auch nicht schlecht, so ein ganz klein wenig, so leiser, munterer, weiblicher Jubel, das hätte Wilhelm gewiss sehr gefallen. Helene schien es, als sähe er zufrieden aus, wenn sie anerkennend nickte und schlicht hinnahm, was er sagte. Und konnte sie nicht tatsächlich einfach mal etwas hinnehmen? Am Vorabend hatte er sich ein wenig beklagt, vielleicht war er nur gereizt gewesen, weil es die Nacht vor der Hochzeit war. Er hatte mit Blick in die Zeitung gesagt, ihn beschleiche manchmal der Verdacht, seine Alice wäre eine freudlose Natur. Als Helene keine Antwort eingefallen war und sie schweigend weiter den Herd abgewischt hatte, hatte er hinzugefügt: Nicht nur Freudlosigkeit glaube er jetzt hin und wieder an ihr zu bemerken, sondern auch eine Spröde.
Jetzt sah Wilhelm durch sein Fernglas. Insgeheim schämte sich Helene. Wollte sie ihm etwa am Tag seiner Hochzeit den Blick auf das Schöne verübeln? Sie schwieg und fragte sich ernsthaft, was er meinte und was wohl los wäre, wenn die deutschen Ruderer in einigen Wochen bei den Olympischen Spielen siegen würden. Sie fragte sich auch, warum Martha auf ihre Briefe nicht mehr antwortete, und beschloss, Leontine zu schreiben. Leontine war zuverlässig, erst zu Fastnacht hatte sie Helene geschrieben, wie froh sie sei, ihr mitteilen zu können, dass sie vermutlich eine Entlassung der Mutter vom Sonnenstein bewirken könne. Zum Glück habe das greise Mariechen im Hause ausgeharrt und würde sich über die Rückkehr ihrer Dame gehörig freuen. Leontine hatte mit Leo unterzeichnet und Helene war erleichtert, immer wieder las sie den Brief und den Namen Leo und war glücklich.
Der Bäderdampfer unten an der Landungsbrücke legte ab, Möwen umkreisten das Schiff, wohl in der Hoffnung, die Ausflügler könnten
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