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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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    I n Alice Springs, einem Netz verbrannter Wege, wo Männer in langen weißen Socken unaufhörlich in Landcruiser einstiegen oder aus Landcruisern ausstiegen, begegnete ich einem Russen, der damit beschäftigt war, eine Karte von den heiligen Stätten der Aborigines anzulegen.
    Sein Name war Arkady Wolschok. Er war australischer Staatsbürger. Er war dreiunddreißig Jahre alt.
    Sein Vater, Iwan Wolschok, ein Kosake aus einem Dorf in der Nähe von Rostow am Don, war 1942 geschnappt und zusammen mit einer Zugladung weiterer »Ostarbeiter« zum Dienst in eine deutsche Fabrik geschickt worden. Eines Nachts, irgendwo in der Ukraine, sprang er aus dem Viehwaggon in ein Sonnenblumenfeld. Soldaten in grauen Uniformen jagten ihn die langen Reihen von Sonnenblumen auf und ab, aber er entkam ihnen. Irgendwo anders, verirrt zwischen modernen Armeen, traf er ein Mädchen aus Kiew und heiratete sie. Gemeinsam verschlug es sie in einen verschlafenen Vorort von Adelaide, wo er eine Wodkabrennerei aufzog und drei kräftige Söhne zeugte.
    Der jüngste von ihnen war Arkady.
    Arkady war von seinem Temperament her keineswegs für ein Leben in der Abgeschiedenheit eines angelsächsischen Vororts oder für einen konventionellen Beruf bestimmt. Er hatte ein flaches Gesicht und ein sanftes Lächeln, und er durchquerte die hellen Weiten Australiens mit der Unbeschwertheit seiner rastlosen Vorfahren.
    Er hatte dichtes, glattes Haar von strohblonder Farbe. Seine Lippen waren in der Hitze aufgesprungen. Er hatte nicht den verkniffenen Mund so vieler weißer Australier aus dem Busch; auch verschluckte er seine Wörter nicht. Er rollte das R auf eine sehr russische Art. Nur aus nächster Nähe erkannte man, wie grobknochig er war.
    Er war verheiratet, erzählte er mir, und hatte eine sechsjährige Tochter. Doch da er die Einsamkeit dem häuslichen Chaos vorzog, lebte er nicht mehr mit seiner Frau zusammen. Er besaß, abgesehen von einem Cembalo und einem Regal mit Büchern, kaum etwas.
    Er war ein unermüdlicher Buschwanderer. Es machte ihm nichts aus, mit einer Feldflasche Wasser und ein paar Bissen Proviant zu einem Marsch von hundert Meilen längs der MacDonnell-Berge aufzubrechen. Wenn er danach aus der Hitze und der Helligkeit nach Hause kam, zog er die Vorhänge zu und spielte Musik von Buxtehude und Bach auf dem Cembalo. Ihre regelmäßig fortschreitenden Sequenzen, sagte er, entsprächen den Umrissen der zentralaustralischen Landschaft.
    Arkadys Eltern hatten beide nie ein Buch in Englisch gelesen. Sie waren hocherfreut, als er sein Studium der Geschichte und der Philosophie an der Universität von Adelaide mit Auszeichnung abschloß. Sie waren traurig, als er fortging, um als Lehrer in einer Aborigines-Siedlung im Warlpiri Country nördlich von Alice Springs zu arbeiten.
    Er mochte die Aborigines. Er mochte ihre Courage und ihre Zähigkeit und ihre geschickte Art im Umgang mit dem weißen Mann. Er hatte einige ihrer Sprachen gelernt oder halb gelernt, und ihre intellektuelle Kraft, ihr fabelhaftes Gedächtnis und ihre Fähigkeit und ihr Wille zu überleben hatten ihn in Erstaunen gesetzt. Sie seien, betonte er, keine aussterbende Rasse – wenn sie auch hin und wieder Hilfe brauchten, um sich die Regierung und die Bergbaugesellschaften vom Hals zu schaffen.
    Während seiner Zeit als Lehrer hörte Arkady zum erstenmal von dem Labyrinth unsichtbarer Wege, die sich durch ganz Australien schlängeln und die Europäern als »Traumpfade« oder »Songlines« und den Aborigines als »Fußspuren der Ahnen« oder »Weg des Gesetzes« bekannt sind.
    Schöpfungsmythen der Aborigines berichten von den legendären totemistischen Wesen, die einst in der Traumzeit über den Kontinent wanderten und singend alles benannten, was ihre Wege kreuzte – Vögel, Tiere, Pflanzen, Felsen, Wasserlöcher –, und so die Welt ins Dasein sangen.
    Arkady war von der Schönheit dieser Vorstellung so beeindruckt, daß er begann, alles aufzuschreiben, was er hörte oder sah, nicht um es zu veröffentlichen, sondern um seine eigene Neugier zu befriedigen. Anfangs mißtrauten ihm die Ältesten der Warlpiri und gaben ihm ausweichende Antworten auf seine Fragen. Mit der Zeit jedoch, als er ihr Vertrauen gewonnen hatte, luden sie ihn ein, ihren streng geheimen Zeremonien beizuwohnen, und ermutigten ihn, ihre Lieder zu lernen.
    Einmal kam ein Anthropologe aus Canberra, um die Landbesitz-Ordnung der Warlpiri zu erforschen: ein neidischer Akademiker, der Arkady seine

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