Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Weihnachten waren sie nach Stettin aufgebrochen. Der Abschied von Martha und Leontine war nicht leichtgefallen. Sie hatten sich am letzten Abend in Leontines Wohnung getroffen, die dicken Samtvorhänge waren zugezogen, Leontine bot einen irischen Whiskey und dunkle Zigaretten an, sie meinte, das wäre das Richtige für den Augenblick.
Wenn ich schreibe, hatte Martha gesagt, dann schreibe ich jetzt an Alice? Leontine hatte lachend eingeworfen, dass niemand einseitig eine Verwandtschaft aufkündigen könne. Jede Woche werde ich dir schreiben, das hatte Martha versprochen, als Elsa mit einer Bautzener Adresse.
In Stettin hatte Wilhelm sie beim Standesamt angemeldet, ihre Verlobung wurde beurkundet und das Aufgebot bestellt. Er ließ Helene in der Kammer neben der Küche schlafen, sie war froh über seine Rücksicht. Die Hochzeit sollte Anfang Mai sein. Helene sollte nicht arbeiten, Wilhelm gab ihr Geld, sie kaufte ein und legte ihm die Kassenzettel auf den Tisch, sie kochte, sie wusch und bügelte, sie heizte. Sie war dankbar. Wünschte sich Wilhelm zum Abendessen Rinderrouladen, konnte es sein, dass Helene den halben Vormittag von Fleischerei zu Fleischerei eilte, um das richtige Fleisch für die Rouladen zu finden. Wilhelm wollte nicht, dass sie vorne in der Bismarckstraße bei Wolff kaufte. Da konnte er noch so freundlich sein und Helene noch so günstige Preise machen. Solche Leute muss man nicht unterstützen, sagte Wilhelm und Helene wusste, was er mit solche meinte und fürchtete, er könne ihr nachgehen und beobachten, ob sie sich an seine Anweisungen hielt. Einmal hatten sie einander zufällig getroffen, Helene war gerade mit zwei Büchern unter dem Arm aus der Bücherei am Rosengarten getreten, als Wilhelm sie von der anderen Straßenseite her zu sich gerufen hatte. Er hatte einen flüchtigen Blick auf ihre Bücher geworfen. Buber, muss man das lesen? Die Stunde und die Erkenntnis, huh, da krieg ich Angst. Welche Erkenntnis versprichst du dir davon, fragte er lachend. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und ihr ins Ohr gesagt: Auf dich muss man ja aufpassen. Ich möchte nicht, dass du in diese Bücherei gehst. Die Volksbücherei ist doch gleich um die Ecke. Die paar Meter bis zur Grünen Schanze wirst du schon noch laufen können.
Legte Wilhelm ihr sein Hemd hin, wo ein Knopf abgerissen war, lief Helene von einem Kurzwarenhändler zum nächsten, bis sie nicht den einen richtigen Knopf, wohl aber, zurück im ersten Geschäft, ein ganzes Dutzend passender Knöpfe gefunden hatte, so dass sie die übrigen Knöpfe für den einen fehlenden komplett austauschte. Helene empfand eine Dankbarkeit, die sie fröhlich werden ließ.
Einmal sagte Wilhelm, dass man erst mit dem Eintreten in ihre Wohnung bemerken würde, wie schmutzig der Hausflur wäre. Er meinte es als Kompliment. Du bist wunderbar, Alice. Nur über eins muss ich mit dir sprechen, streng sah er sie an, unsere Nachbarin aus dem Erdgeschoss hat mir erzählt, sie hätte dich letzte Woche in der Schuhstraße zur Tür dieses Kurzwarenhändlers treten sehen. Bader heißt er? Helene spürte, wie sie rot wurde. Baden, Herbert Baden, ich kaufe seit Weihnachten bei ihm, er hat sehr feine Waren, solche Knöpfe gab es nirgends sonst. Wilhelm hatte Helene nicht angesehen, er hatte einen großen Schluck aus seinem Bierglas genommen und gesagt: Mein Gott, dann kaufst du eben andere Knöpfe, Alice. Bist du dir im Klaren, dass du uns gefährdest? Nicht nur dich, mich auch.
Am nächsten Morgen, kaum hatte Wilhelm die Wohnung verlassen, machte sich Helene an die Arbeit. Sie schrubbte und scheuerte die Treppe vom Dach bis hinunter zum Eingang. Zuletzt bohnerte sie, dass es glänzte und alles an ihr nach Wachs roch. Als Wilhelm am Abend der saubere Hausflur nicht aufgefallen war, sagte Helene nichts. Sie war froh, dass sie etwas zu tun hatte, sie gehorchte nicht einfach gut, sie gehorchte gern. Was gab es Besseres als die feste Aussicht auf Dinge, die erledigt werden mussten, Aufgaben, Erledigungen, vor deren Erfüllung die Zeit nur noch als Sorge erschien, dass sie nicht langen könnte. Auch wusste Helene, woran sie denken musste, an die braune Schuhwichse und an den durchwachsenen Speck für das Abendessen. Am liebsten erledigte sie die anstehenden Arbeiten, ehe Wilhelm etwas vermissen oder bemängeln musste. Wenn Wilhelm von seiner Arbeit kam, sagte er, er wäre schon glücklich, sie zu Hause zu wissen und sie um sich zu haben. Mein Heimchen, nannte er sie
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