Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
Vom Netzwerk:
weinen. Das machte es noch schwieriger.
    Wenn Helene ihn abholte, war sein Blick ein fremder. Er fragte sie: Wo warst du, Mutter?
    Helene musste an die verwundete Pflegerin aus Warschau denken, deren beide Beine fehlten. Sie war ihnen erst vor wenigen Tagen gebracht worden, sie war die erste Kriegsverwundete, die Helene sah. Am ganzen Körper waren ihre Lymphknoten dick geschwollen und an mehreren Stellen des Körpers hatte sie die typischen kupferfarbenen Knötchen, die sich in den Hautfalten schon zu großflächigen Papeln entwickelt hatten. Helene musste bei der Versorgung der Geschwüre Handschuhe und Mundschutz tragen, weil die Papeln bereits nässten und Ansteckung drohte. Nur gut, dass die Patientin keinerlei Juckreiz verspürte. Dank der Antibiose heilten die Wunden der Beinstümpfe gut, aber ihr Herzmuskel hatte sich noch nicht an das lange Liegen und den langsamen Kreislauf gewöhnt, und sie litt unter Schlaflosigkeit. Es konnte sein, dass das Prontosil auch gegen die Syphilis helfen würde, vielleicht.
    Wo warst du, Mutter? Hörte Helene ihren Peter fragen. Sie saßen in der Straßenbahn nebeneinander. Sollte sie ihm erzählen, sie wäre in der Sternwarte gewesen oder im Schmetterlingshaus, ihm eine schöne Geschichte erzählen, die es in seinen Augen noch unverständlicher machen musste, weshalb sie ihn für zwölf Stunden abgegeben hatte?
    Mutter! Sag was. Warum sagst du immer nichts?
    Arbeiten, sagte Helene.
    Was arbeiten? Peter zupfte an ihrem Ärmel, er sollte aufhören, an ihrem Ärmel zu zupfen. Was arbeiten?
    Konnte er keine Ruhe geben, musste er immer weiterfragen? Helene sagte zu Peter: Frag nicht.
    Eine ältere Frau stand von der Bank vor Helene auf, sie wollte wohl an der nächsten Station aussteigen und hielt sich an der Stange fest. Die Frau strich Peter über das frischgeschnittene Haar: Was für ein schmucker Pimpf, sagte die Frau. Helene blickte aus dem Fenster. Es kamen noch nicht viele Verwundete bis nach Stettin, die meisten blieben in den Lazaretten, und dank der Tatsache, dass Helene ein Kind hatte, wurde ein ums andere Mal davon abgesehen, sie zu versetzen. Schwesternmangel, hieß es, man suchte händeringend Freiwillige für die Lazarette, die Ausbildungen wurden verkürzt, die ledigen Schwestern wurden in die Lazarette verpflichtet und man griff zunehmend auf verheiratete zurück, um die Städtischen Krankenhäuser noch bewirtschaften zu können. Eines Tages wurden zwei Schwestern nach Obrawalde verpflichtet, auch Helene wollte man schicken, schon hieß es, eine erfahrene Schwester wie sie benötige man dort. Aber sie hatte Glück, über einen Arzt wurde bekannt, dass man auch in der Stettiner Frauenklinik dringend erfahrene Kräfte brauchte, und die Leitung sah ein, dass es für Helene schwierig sein würde, ihr Kind mit nach Obrawalde zu nehmen. Regen schlug gegen die Fensterscheibe. Es war längst dunkel geworden. Die Lichter der Autos verschwammen.
    Gott sei Dank bekommen Frauen wie Sie wieder Kinder. Muss man sagen. Die Frau nickte jetzt anerkennend.
    Helene sah die Frau nur flüchtig an, sie wollte nicht nicken, sie wollte nichts sagen, aber die Frau ließ sich nicht aufhalten.
    Nur kurz musste sie an das sechzehnjährige Mädchen von heute Mittag denken. Was für schöne rötliche Haare das junge Mädchen hatte. Mandelbraune Augen, unter rotgoldenen Wimpern. Ihre Brüste waren schon groß wie Äpfel. Sie hatte das Lachen der Morgensonne, sie ging gerade erst auf, sechzehn Jahre. In Gebärdensprache hatte das Mädchen vor der Narkose Zeichen gemacht, von denen Helene ahnte, was sie bedeuten mochten. Es waren fragende Zeichen, auch ängstliche. Sie hatten ihr eine Vollnarkose gegeben. Helene hatte den Wundhaken gehalten. Keine konnte so still halten wie Helene. Der Chirurg durchtrennte die Eileiter. Beim Nähen musste man auf die Tube achten. Der Chirurg hatte Helene gebeten, zu halten. Er musste niesen und sich die Nase schnauben. Auf sie könne man sich verlassen, hatte der Chirurg zu Helene gesagt, und sie gebeten, die Naht zu beenden.
    Sie können stolz sein, die Frau wechselte jetzt die Hand und hielt sich mit der anderen an der Stange fest, weil die Straßenbahn in die Kurve fuhr, wirklich, stolz sein, die Frau nickte wohlwollend. Sie meinte Peter. Helene empfand keinen Stolz. Warum sollte sie stolz darauf sein, dass sie ein Kind hatte? Peter gehörte ihr nicht, sie hatte ihn geboren, aber er war nicht ihr Eigentum und nicht ihre Errungenschaft. Helene war froh, wenn sie

Weitere Kostenlose Bücher