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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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gerne streicheln. Helene streichelte seine Stirn und sie steckte die Decke über ihm fest.
    Mutter, singe?
    Helene wusste, dass sie nicht singen konnte, sie streichelte ihn und schüttelte den Kopf. Eine Frau im Krankenhaus hatte sie heute am Arm gepackt, mit einer alten und knochigen Hand, sie hatte zu Helene gesagt, sie möge sie sterben lassen. Bitte, einfach nur sterben. Schlaf, Peterle.
    Singe, bitte, singe? Peter wollte seine Augen nicht schließen.
    Vielleicht musste sie sich nur ein wenig anstrengen, Helene wollte singen, sie konnte nur nicht. Gab es ein Lied, das ihr einfiel? Maria durch ein Dornwald ging. Weihnachten war längst vorbei. Ihre Stimme kratzte, kein Ton wollte sich vom anderen abheben. Peter beobachtete sie, Helene schloss ihren Mund.
    Singe.
    Helene schüttelte den Kopf. Ihr Hals war fest und dick, zu schmal die Öffnung, ihre Kraft gering, die Stimmbänder starr und morsch. Ob es eine krankhaft frühzeitige Alterung der Stimmbänder gab, das Versiegen der Stimme?
    Tante singe, verlangte Peter jetzt und wollte sich wieder aufrichten. Helene wusste, dass Frau Kozinska manchmal für Peter gesungen hatte. Sie sang auch, wenn Helene ihr auf der Straße oder im Treppenhaus begegnete. Manchmal hörte man ihr Singen bis in die Wohnung hinauf. Helene schüttelte den Kopf. Frau Kozinska sang gerne, eine ungebrochene Fröhlichkeit, eine beneidenswerte, aber sie hatte Peter zu oft allein gelassen, und wenn sie abends da war, trank sie gerne. Es war ein Segen, dass es jetzt den Kindergarten gab. Nur in den Wochen mit Nachtdiensten war es schwierig. Helene ließ Peter dann allein, er schlief ja die längste Zeit. Sie hatte ihm vor dem Bett gesagt, dass sie wiederkommen werde, und schloss die Tür ab. Wenn sie morgens nach Hause kam, holte sie zuerst die Kohlen aus dem Keller, sie schleppte meist ein gutes Dutzend auf einmal, sie trug sie auf dem Rücken in einer Kiepe und links und rechts noch einen Eimer voller Briketts und Holzscheite. Oben angekommen heizte sie den Ofen an, Peter schlief in ihrem Bett, sie streichelte ihm über das kurze blonde Haar, bis er sich streckte und auf ihren Arm wollte, sie wusch ihn, zog ihn an, gab ihm etwas zu essen und brachte ihn in den Kindergarten, wo er wieder auf ihren Arm wollte, sie ihn aber nicht hochnahm, weil sie sich sonst nicht voneinander trennen konnten. Zurück zu Hause wusch Helene die Wäsche, sie nähte den Riemen der Lederhose an, seit Baden sein Geschäft hatte aufgeben müssen, kam sie an keine guten und günstigen Kurzwaren mehr, Baden war verschwunden, er war im Februar mit den anderen weggebracht worden, nach Osten, hieß es, Helene nähte also den Riemen der Lederhose fest und ersetzte das verlorene Edelweiß gegen einen bunten Knopf und schlief selbst einige Stunden, sie legte ein, zwei Briketts nach und holte Peter vom Kindergarten ab und brachte ihn nach Hause, an den Abendbrottisch und ins Bett und löschte das Licht und schlich sich aus der Tür, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig die Straßenbahn zur Nachtschicht im Krankenhaus zu bekommen.
    Wenn Helene alle zwei Wochen einen Tag frei hatte, ging sie mit Peter an der Hand hinunter zum Hafen. Sie sahen den Schiffen zu, nur selten kam ein Kriegsschiff herein. Peter bestaunte die Kriegsschiffe, und sie zeigte ihm die Vogelschwärme.
    Enten, sagte sie und deutete mit ihrer Hand zu der kleinen Gruppe fliegender Vögel. Sie flogen zu fünft im V. Peter aß gerne Ente, aber Helene besaß nicht das Geld, um eine zu kaufen. Ab und an schickte Wilhelm aus Frankfurt Geld. Sie wollte sein Geld nicht; es war Schweigegeld, sie brauchte sein Geld nicht zum Schweigen. Alle paar Monate schickte er einen Brief mit Geld darin und einem Zettel: Meine Alice, kauf dem Jungen Handschuh und Mütze, stand darauf. Helene hatte Peter längst Handschuh und Mütze gestrickt, sie nahm das Geld, steckte es in einen Umschlag und schrieb darauf: Frau Selma Würsich, Tuchmacherstraße 13, Bautzen in der Lausitz. Sie schickte die Briefe ohne Absender nach Bautzen, bis zuletzt, bis zu dem Tag, an dem sie ein schmales, langes Päckchen aus Berlin erhielt. In dem Päckchen befand sich der aus Horn geschnitzte Fisch. Die Kette darin fehlte. Vielleicht hatte jemand Geld benötigt und die Rubine verkaufen müssen, womöglich war das Päckchen auf der Post geöffnet worden und hatte jemand Gefallen an der Kette gefunden. Im Innern des Fisches steckte ein Brief. Der Brief roch betäubend, er roch nach Leontine. Es war Leontines

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