Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
öffnete jetzt seinen Mund und schrie. Er wurde dunkelrot. Damit hatte Helene nicht gerechnet. Sie hatte nie an einen Jungen gedacht, immer an ein Mädchen.
Entscheiden Sie sich jetzt, sonst geben wir ihm ein Fläschchen.
Ich stille es, natürlich. Helene öffnete ihr Nachthemd, sie wollte das Kind an ihre Brust legen, aber jetzt fuhr die Offizierin wieder dazwischen.
Hier, so müssen Sie das machen. Grob und mit zwei Fingern fasste die Offizierin Helenes Brust an und stopfte sie dem Kind in den Mund. So, sehen Sie? Sie müssen aufpassen, dass das Kind richtig anliegt. Und ob das mit Ihren Brüsten was wird, na, das werden wir noch sehen.
Helene ahnte sogleich, was die Offizierin meinte. Ihre Brüste waren in den vergangenen Monaten so groß und prall geworden, wie Helene es sich nie erträumt hatte, aber groß war eben nur relativ. Im Verhältnis zu den Brüsten anderer Wöchnerinnen waren sie klein, geradezu winzig, Helene wusste das.
Das Kind an ihrer Brust schluckte und atmete schwer durch die winzige Nase, es hatte sich festgesaugt, es saugte, dass es kribbelte, und saugte, dass es drückte, es saugte um sein Leben. Das Kind öffnete die Augen nicht, es saugte so stark, dass Helene überlegte, ob es wohl schon Zähne hatte.
Name? Jemand war an Helenes Bett getreten. Warum nur war die Offizierin so streng? Sicher, sie hatte viel Arbeit, gewiss gab es Gründe. Womöglich hatte Helene etwas falsch gemacht. Welche Demütigung, als Krankenschwester in einem Krankenhaus zu liegen.
Name?
Sehmisch. Alice Sehmisch.
Nicht Ihren Namen, den haben wir. Wie soll Ihr Sohn heißen?
Helene betrachtete ihr Kind, wie es durch die Nase atmete und an ihrer Brust sog, als wolle es sie aufsaugen, ganz und gar. Was für zarte, schmale Hände er hatte, zierliche Fingerchen, die vielen Falten, die dünne Haut, seine Hand umklammerte ihren Zeigefinger wie einen Ast, als müsse es sich um jeden Preis festhalten. Wie konnte sie ihm einen Namen geben, er gehörte ihr nicht. Welche Anmaßung, einen Namen für ein Kind. Wo sie doch selbst keinen Namen mehr hatte, zumindest nicht mehr den, der ihr für das Leben gegeben worden war. Er konnte sich umbenennen, später, wenn er wollte. Das beruhigte Helene. Und sie sagte: Peter.
Erst als die Schwester weggegangen war, flüsterte sie ihrem Kind zu: Ich bins, deine Mutter. Das Kind blinzelte, es musste niesen. Wie gerne hätte Helene es Martha und Leontine gezeigt. Sah es nicht aus wie ein Mädchen? Goldblatt, flüsterte Helene an seine Wange und streichelte ihm über das weiche, lange Haar.
Vor Weihnachten kam Wilhelm nach Hause. Sie hatten in der Zwischenzeit telegraphiert. Er war nicht überrascht, dass sie niedergekommen war. Ein Junge, Wilhelm nickte, er hatte nichts Geringeres erwartet. Peter? Warum nicht. Sie solle den Jungen mal ordentlich füttern, riet er ihr wenige Stunden nach seiner Ankunft. Das Kind habe Hunger, ob sie das nicht höre? Und warum es in der Wohnung so merkwürdig rieche, ob das die Windeln des Kindes seien, das wollte er wissen und sein Blick fiel auf die gelblich verfärbten Windeln, die zum Trocknen auf der Leine hingen. Was ist, kannst du nicht mehr waschen? Siehst du nicht, dass die Windeln noch dreckig sind?
Sie werden nicht sauberer, sagte Helene und dachte, wenn die Sonne schiene, hätte sie sie im Licht bleichen können. Aber draußen wurde es kaum hell, es schneite seit Wochen.
Als der kleine Junge nachts schrie und Helene aufstand, um ihren Peter zu sich ins Bett zu holen, sagte Wilhelm mit dem Rücken zu ihr: Ich glaube, dir gehts zu gut. Setz dich in die Küche, wenn es sein muss. Ein arbeitender Mann braucht seinen Schlaf.
Helene tat, was er befahl. Sie setzte sich mit ihrem Kind in die kalte Küche und stillte es dort, bis es schlief. Doch sobald sie es in sein Körbchen legen wollte, wachte es auf und weinte. Nach zwei Stunden schlich sie erschöpft in das Schlafzimmer. Aus dem Dunkel kam Wilhelms Stimme. Mach, dass das Kind still ist und nachts schläft, sonst reise ich morgen wieder ab.
Nicht alle Kinder schlafen durch.
Du weißt wohl alles besser, wie? Wilhelm drehte sich zu ihr um und schrie ihr entgegen: Hör mal, Alice, ich lass mir von dir nicht die Welt erklären.
Helene tupfte sich im Dunkel den Sprühnebel seiner Worte vom Gesicht. Hatte ihr jemals daran gelegen, ihm die Welt zu erklären?
Es wird Zeit, dass du arbeitest, sagte er ruhig, als er ihr wieder den Rücken zukehrte. Wir können uns keine Schmarotzer leisten.
Helene
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