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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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Handschrift. Meine kleine Alice, in Berlin regnet es immerzu, aber der Frost ist endlich vorüber. Ob du noch unter dieser Adresse wohnst? Martha war in den letzten Jahren sehr krank. Du kennst sie ja, sie klagt nicht, sie wollte nicht, dass du davon erfährst. Wir wollten dich nicht damit belasten. Sie verbot mir, dir zu schreiben. Sie musste die Arbeit im Krankenhaus aufgeben. Man hat ihr eine Arbeit in einem der neuen Arbeitslager zugewiesen. Mir sind hier die Hände gebunden. Einen Ehemann bräuchte sie jetzt, einflussreiche Eltern, einen unmittelbaren Verwandten. Sobald ich sie einmal besuchen darf, muss ich ihr mitteilen, dass gestern ein Brief der gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege eingetroffen ist. Es heißt darin, ihre Mutter sei vor wenigen Wochen in Groß schweidnitz an einer akuten Lungenentzündung gestorben. Es tut mir sehr leid für sie. Obwohl ich weiß, dass manche es als Gnadentod bezeichnen.
    Die Sirenen der großen Schiffe waren tief, sie ließen das Zwerchfell vibrieren. Selbst in ihren Fußsohlen konnte Helene das Brummen spüren. Peter wollte von seiner Mutter wissen, wo die Kanonen der Schiffe seien. In Leontines Handschrift stand unter dem Brief: Gehab dich wohl. Deine Schwester Elsa. Als Postskriptum hatte sie folgenden Satz vermerkt: Erinnerst du dich noch an die alte Nachbarin Fanny? Sie ist abgeholt worden. In ihrer Wohnung lebt jetzt die Familie eines Obergruppenführers, seine Frau mit drei netten Kindern. Helene wusste, was dieser Brief bedeutete. Leontine musste die Spuren verwischen, sie gefährdete sonst ihrer beider Leben. Sie hatte die einzig möglichen Worte gewählt, um das Ungeheuerliche zu schreiben. Leontine hatte getrocknete Rosenblätter in den Brief gerollt. Die Rosenblätter waren Helene entgegengefallen. He lene musste weinen, aber sie konnte nicht. Etwas hinderte sie, sie konnte nicht anerkennen, was sie verstanden hatte. Ein süßer Duft ging von ihnen aus, vielleicht war es auch nur der Duft von Leontines Parfüm. Ihr wahrer Name sollte in keinen gefährlichen Zusammenhang mit Martha, Helene und sonst jemandem geraten. Ob sie noch am Krankenhaus arbeitete? Musste sie Eierstöcke durchtrennen, wollte man auch sie in ein Lazarett schicken? Schließlich war Leontine in der Zwischenzeit geschieden worden, sie hatte keine Kinder, man konnte sie schicken, wohin man wollte. Sie konnte sich Namen nehmen, so viele sie wollte, Leo, Elsa und ihretwegen auch Abaelard, Helene würde ihre feste und flüchtige Handschrift immer erkennen, sie hatte sich in Helenes Inneres gebrannt. Eine unbändige Sehnsucht ergriff Helene, ihr wurde schwindelig, sie schwitzte.
    Kanonen? Peter zog ungeduldig am Ärmel seiner Mutter. Wo sind die Kanonen? Helene wusste es nicht.
    Bist du traurig? Peter blickte zu seiner Mutter hinauf.
    Helene schüttelte den Kopf. Der Wind, sagte sie. Komm, wir gehen noch zum Bahnhof, wir sehen uns die Züge an. Helene musste daran denken, wie es wäre, wenn sie einfach eine Fahrkarte lösen und mit Peter nach Berlin fahren würde. Es sollte möglich sein, Leontine ausfindig zu machen. Es musste. Aber wer wusste, welche Gefahr darin lag?
    Der Bahnhof lag unterhalb der Stadt an der Oder. Die Züge fuhren ein und aus. Der Wind fegte über den Bahnsteig und trieb ihnen viele Tränen aus den Augen. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und hielten einander an der Hand. Im Krankenhaus gab es eine neue Schwester, Ida Fiebinger, sie kam aus Bautzen. Helene war seltsam zumute geworden, als sie Ida Fiebinger zum ersten Mal sprechen gehört hatte, die Melodie, die geschlossenen Vokale, das trichterförmige Schleppen der Sätze. Helene musste ständig Idas Nähe suchen. Eines Tages sagte Schwester Ida, als der Sturm einen Baum im Hof des Krankenhauses gefällt hatte: Weiß der Wind mal nicht wohin, weht er über Budissin. Schwester Ida hatte dabei gelacht und mit Blick aus dem Fenster zu dem gefallenen Baum zu den anderen Schwestern gesagt, sie müsse sich wohl um ihre Heimat keine Sorgen machen. Helene wäre bei dem Satz am liebsten im Erdboden versunken, nur mit Mühe hatte sie ein Lächeln unterdrückt. Wie lange hatte sie dieses Sprichwort nicht gehört?
    Peter sagte, ihm sei kalt, er wollte nach Hause. Helene vertröstete ihn, noch einen Zug sollten sie abwarten. Einmal hatte sich Schwester Ida, als sie beim Mittagessen in der Schwestern küche mit ihren Tellern im Kreis standen, mitten im Satz zu Helene umgedreht und gesagt: Jetzt weiß ich, warum du mir die ganze

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