Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
blieb über Nacht. Helene war froh, dass Wilhelm nicht kam. Sie wollte das Kind an ihre Brust legen, aber das Kind wand sich und schrie und biss auf die harte, heiße Brust. Es schrie empört.
Helene fütterte ihr Kind mit dem Fläschchen. Erst war es empört, spuckte vergorene Brocken Milch, verschluckte sich, die Milch im Fläschchen war noch zu heiß und schon zu kalt, Helene biss die Zähne zusammen. Es würde trinken, ganz sicher, verhungern würde es nicht. Die Entzündung ging zurück, die Brust schwoll ab, und eine Woche später war noch nicht alles gut, nicht völlig, aber ziemlich, mit der Entzündung war die Milch versiegt; Wilhelm glaubte, dass er für Recht und Ordnung gesorgt hatte. Nur die Frage mit ihrer Arbeit wollte er noch geklärt wissen, ehe er Anfang des Jahres nach Frankfurt aufbrechen musste. Wilhelm begleitete Helene zum Städtischen Krankenhaus in den Pommerensdorfer Anlagen.
Ganz bestimmt können wir Ihre Frau einstellen, sagte die Personaldienstleitende zu Wilhelm. Sie wissen, dass wir nicht halb so viele Schwestern motivieren können, wie wir benötigen. Dazu hatten wir gerade eine Entlassung. Eine polnische Schwester, auch noch Mischling zweiten Grades, die sollen ihres gleichen pflegen. Ihr Familienbuch, das Zeugnis, wie schön, dass Sie alles gleich mitgebracht haben. Ein Gesundheitszeugnis kann bei uns im Hause ausgestellt werden. Die Personaldienstleitende sichtete die Unterlagen.
Erst als die Personaldienstleitende Wilhelm und Helene zur Tür brachte, entdeckte sie den vor dem Gebäude an der Kellertreppe abgestellten Kinderwagen. Und das Kind, bleibt es bei der Großmutter?
Wilhelm und Helene sahen zum Kinderwagen. Wir finden eine Betreuung, sagte Wilhelm mit seinem strotzenden Lächeln. Die Personaldienstleitende nickte und schloss ihre Tür. Helene schob den Kinderwagen, Wilhelm lief mit langen Schritten neben ihr. Wie selbstverständlich schlug er nicht den Weg zurück zu seinem Wagen ein, sondern brachte Helene und das Kind zum Oberwiek. Die Oder war grau und schlug Wellen unter dem Wind. Wilhelm sah auf die Armbanduhr und verkündete mit Blick in die Richtung seines Wagens, dass er schon aufbrechen müsse, man erwarte ihn am Nachmittag in Berlin. Sicherlich werde die Straßenbahn bald kommen, sie werde es allein zurück schaffen, nicht wahr? Helene nickte.
In den ersten Monaten waren die feinen, glänzenden, dunklen Haare des Kindes ausgefallen, eins nach dem anderen, bis das Köpfchen schließlich kahl war und ein weißblonder Flaum wuchs, es wurden goldblonde Locken, goldblond wie Helene. Helene arbeitete laut Vertrag sechzig Stunden in der Woche im Schichtdienst, in Wirklichkeit waren es mehr als diese sechzig Stunden, alle zwei Wochen hatte sie einen Tag frei, sie holte ihr Kind von Frau Kozinska ab und hatte mit seinem dritten Geburtstag einen Platz im Kindergarten zugeteilt bekommen. Sie war froh darüber, weil sie manches Mal bei Frau Kozinska geklopft und niemand ihr geöffnet hatte. Dann hatte ihr Kind hinter der verschlossenen Tür geschrien, Mutter, hatte es geschrien, Mutter, manchmal hatte es auch nach der Tante geweint, wie es Frau Kozinska nannte. Helene hatte vor der verschlossenen Tür warten müssen, weil Frau Kozinska schnell hinuntergegangen war, um Besorgungen zu machen, und manches Mal erst nach einer Stunde zurückkehrte.
Wie heißt denn Ihre Kleine? Das hatte die Kindergärtnerin gefragt, als Helene ihr Kind zum ersten Mal brachte. Helene betrachtete seine goldenen Locken, die sich wie Korkenzieher weich über seine Schultern legten.
Peter. Sie hatte ihm noch kein einziges Mal die Haare geschnitten.
Wir kümmern uns um Ihren Jungen, sagte die Kindergärtnerin freundlich. So ein hübsches Kerlchen.
Helene würde ihm jetzt die Haare schneiden müssen. Die Kindergärtnerin strich Peter über den Kopf und nahm ihn bei der Hand.
Helene lief zwei, drei Schritte hinterher, sie hockte sich auf den Boden und küsste Peters Wange. Sie drückte ihn an sich. Er weinte und hielt sich mit seinen kleinen Armen fest.
Ich bin bald zurück, versprach Helene, nach dem Abendessen hole ich dich ab.
Peter schüttelte den Kopf, er glaubte ihr nicht, er wollte nicht hierbleiben, er schrie, er klammerte sich an sie, die Tränen spritzten ihm aus den Augen, er biss in ihren Arm, damit sie bleibe oder ihn mitnehme, und Helene musste schnell ein Lächeln zaubern und aufstehen, ihn von sich losmachen, ihm den Rücken zuwenden und hinauseilen. Sie durfte vor Peter nicht
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