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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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hatte, nahmen die beiden einen Zug. Für Peter war es ein großer Tag, es sollte seine erste Reise im Zug sein. Womöglich wollte Wilhelm die gemeinsame Zeit mit seiner Frau verkürzen, indem er die Hälfte der angekündigten Urlaubswoche mit Peter einen kleinen Ausflug machte. Vielleicht stand die Reise auch im Zusammenhang mit seiner Arbeit.
    Helene arbeitete in dieser Zeit auf der Wöchnerinnenstation, die Frauen konnten nicht genug Fürsorge erfahren, beständig mussten Vorlagen gewechselt und Bettpfannen ausgetauscht werden, kalte Wickel gegen das Kindbettfieber und solche aus Quark bei aufkommender Mastitis mussten stündlich erneuert werden. Die Risse versorgt, die Nabel gepudert. Helene brachte den Frauen ihre Säuglinge aus dem Säuglingszimmer und legte sie ihnen an die Brüste. Rosa gesunde Kinder saugten süße Milch aus den gefüllten Brüsten ihrer Mütter, während ihre Väter fern im Osten und im Westen, zu Land, See und Luft an der Front kämpften und die Aushungerung Leningrads überwachten. Helene wollte nicht denken, es gab Anweisungen, Abläufe, Zurufe, sie musste handeln, sie musste laufen, sie drückte die Säuglinge an die Brüste ihrer Mütter, sie wickelte sie, wog und impfte und schrieb einen letzten Brief an die alte Adresse, die sie von Leontine besaß. Sie würde keinen weiteren mehr schicken; auf keinen einzigen ihrer Briefe war eine Antwort gekommen. Die Fernmeldevermittlung sagte ihr, die Telefonnummer sei nicht vergeben und es sei keine Frau Doktor unter besagtem Namen bekannt. Nur zum Schlafen ging Helene nach Hause.
    Am Sonntag, nach der Heimkehr aus Velten, erzählte Peter, sie hätten eine Gießerei besichtigt und in einer Pension übernachtet. Der Onkel habe nicht kommen können, vermutlich habe er keinen Urlaub erhalten. Sie aßen Heringssalat mit Zwiebeln, Äpfeln und Roten Beeten. Nur Kapern hatte Helene keine bekommen können. Peter leckte seinen Teller ab, sein Mund war von den Roten Beeten rosarot. Wilhelm musste zurück nach Frankfurt.
    Davon habe ich mehr, als ich ausgeben kann, sagte Wilhelm, als er Peter zum Abschied an der Tür einen Zehner in die Hand drückte. Peter solle sich Karamellen davon kaufen. Helene war froh, dass Wilhelm wieder weg war.
    Als Helene sich abends neben Peter ins Bett legte, war Peter noch nicht eingeschlafen. Er drehte sich zu seiner Mutter um.
    Vater sagt, wir werden siegen.
    Helene schwieg. Vermutlich hatte Wilhelm dem Jungen von den Bomben erzählt. Wilhelm war der festen Überzeugung, dass erst der Dienst an der Waffe einen Mann zum Mann werden ließ. Helene streichelte ihrem Sohn über die Stirn. Was für ein schöner Mensch er war.
    Vater sagt, dass ich groß und stark werden soll.
    Helene musste lächeln. War er das nicht schon, groß und stark? Sie wusste, dass er oft ängstlich war, aber wer konnte mutig sein, wenn er keine Angst besaß? In den Tagen, als Wilhelm mit Peter fort war, hatte sie ein Klappmesser für Peter gekauft. Sie wollte es ihm im November zum sechsten Geburtstag schenken. Sie wusste, dass er sich nichts sehnlicher als ein Klappmesser wünschte. Er wollte sich eine Angel schnitzen, und er wollte sein Brot schneiden.
    Vater sagt, dass du immer schweigst, weil du kalt bist.
    Helene blickte ihrem Peter in die Augen, die Leute sagten, er habe ihre Augen, glasklar und blau; es war schwierig, im Liegen den Kopf zu schütteln. Sie streichelte jetzt seine Schultern, und Peter drückte seine Stirn gegen ihre Brust.
    Aber das glaube ich nicht, sagte Peter an ihrer Brust. Ich hab dich lieb, Mutter. Helene streichelte ihrem Jungen den Rücken. Es war schwer, den Arm zu bewegen. Vielleicht hatte sie über den Tag zu viele Kranke gehoben. Sie fühlte sich schwach. Was konnte sie ihrem Peter sein? Und wie konnte er ihr Peter sein, wenn sie ihm nichts sein konnte, nicht sprechen, noch erzählen, einfach nichts sagen konnte? Eine andere Frau würde weinen, vermutete Helene. Vielleicht stimmte, was Wilhelm behauptete, vielleicht war ihr Herz ein Stein. Kalt, eisig, eisern. Sie weinte nicht, weil ihr nicht zum Weinen war; ihre Füße taten ihr weh, der Rücken schmerzte, sie war den ganzen Tag gelaufen, sie wusste, dass sie nur noch fünf Stunden zum Schlafen hatte, ehe sie aufstehen, die Wäsche bügeln, die Küche wischen, für Peter das Frühstück richten, ihn wecken und zur Schule schicken würde, ehe sie selbst ins Krankenhaus arbeiten ging. Ihr Arm, mit dem sie Peter gestreichelt hatte, der jetzt auf ihm lag, auf ihrem

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