Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
immer gefunden, das Monokel passe besser in ihre Hände als in seine.
Er glaubte, seine Frau könnte zumindest auf ihre bezaubernde Weise lächeln, falls sie noch am Leben war, falls sie seinen Brief las und falls sie so von seinen Verletzungen erfuhr. Allein wenn er sich das Funkeln ihrer Augen vorstellte, deren Farbe zwischen grün und braun und gelb wechselte, lief ihm ein Schauer des Verlangens und Wohlseins in der Welt über den Rücken. Selbst den bislang unbekannten Schmerz, den eine wundgelegene Stelle am Steißbein ausstrahlte, pochend und den Rücken hinauf strebend, als würden die oberen Hautschichten in feinste Streifen geschnitten, selbst den spürte er für Minuten nicht.
Wie konnte er ahnen, dass seine Frau Selma die Briefe ungelesen und noch verschlossen ihrem Mariechen zur Aufbewahrung gab?
Voller Abscheu sagte Selma Würsich dem Mariechen, es ekele sie zunehmend an, von diesem Mann, wie sie inzwischen von ihm sprach, der gegen ihren ausdrücklichen Willen und doch angeblich ihr zuliebe gerne Held geworden wäre, Kriegspost zu erhalten. Sie glaubte in diesen Lebenszeichen einen besserwisserischen Spott zu erkennen, dessen sie ihren Mann ohne weitere Gründe schon verdächtigte, solange sie einander kannten. Innerlich wartete sie auf den Tag seiner Heimkehr und darauf, ihm mit einem pure Gleichgültigkeit ausdrückenden Achselzucken die folgenden Worte des Willkommens zu sagen: Ach, sag bloß, dich gibt’s noch?
Eine auf diese Weise ausgestellte Gleichgültigkeit versprach ihr nach den ersten Wochen des Vermissens und den folgenden Wochen und Monaten der Wut über seinen Weggang den höchsten Triumph. Ausgerechnet das wendische Hausmädchen, eine ältliche Jungfer, als das Ernst Ludwig das Mariechen einmal vor den Ohren der Töchter bezeichnet hatte, war ihr nun der einzige Mensch, mit dem sie noch sprach, wenn auch wenig.
Selma Würsich verbrachte die Jahreszeiten auf der Lauer. Sie fand keine Zeit mehr, eine innere Rastlosigkeit jagte sie im Frühling, von innen nach außen. Plötzlich stand eine Tochter vor ihr und fragte etwas, das Wort Himmelfahrt fiel, und schon wandte sich Selma ab, denn diese Worte hatten mit ihr nichts zu tun, so meinte sie, zwar schallten sie an ihre Ohren, richteten sich Augen einer Tochter paarweise auf sie, aber unmöglich konnte das ihr gelten. Sie sagte dann einfach, sie wollte ungestört sein, und verlangte Ruhe.
Das Verzieren der Ostereier überließ sie dem Mariechen, das in diesen Dingen ohnehin geschickter war. Überhaupt empfand Selma das Zusammensein mit anderen Menschen als immer lästiger, ihr fehlte schlicht die Geduld, das Geschnatter und Gefrage der Töchter zu ertragen. Wie zärtlich dankte sie heimlich dem Himmel, dass ihr Mariechen ihr diese Geselligkeiten vom Leibe hielt.
Im Sommer pflückte Selma die wenigen Kirschen von dem großen unbeschnittenen Baum, den ihr die Kinder der Straße und die eigenen Töchter über Wochen geplündert hatten. Dabei trug sie einen der ausladenden Hüte mit Schleier, unter dem hervor sie unauffälliger in Richtung Kornmarkt schauen konnte, und drehte sich auf der Leiter stets in die Richtung, aus der sie ihren Mann nahen glaubte. Als sie mit ihrem Korb voller Kirschen auf der Treppe vor dem Haus saß, knabberte sie das magere und wurmstichige Fleisch von den Kernen. Es schmeckte sauer und leicht bitter. Die Kerne legte sie zum Trocknen in die Sonne. Wie Knochen blichen sie aus. Alle paar Tage nahm sie eine Handvoll Kerne und schüttelte sie zwischen ihren hohlen Händen. Das Geräusch wärmte sie, so könnte das Glück klingen, dachte Selma.
Im Herbst meinte sie einmal, ihren Mann durch das Laub auf der gegenüberliegenden Straßenseite stapfen zu sehen, und drehte sich eilig um, damit sie im Haus wäre, wenn er käme. Sie bemühte sich, nichts als Gleichgültigkeit zu empfinden. Aber sie bemühte sich umsonst, die Türglocke blieb still, und er kam nicht. Der durch das Laub stapfende Mann musste ein anderer gewesen sein, womöglich einer, der mit einer leidenschaftlichen Umarmung empfangen jetzt bei einer heißen Kohlsuppe lachend mit seiner Frau am Tisch saß.
Zum Winterbeginn entfernte Selma Würsich mit einem Messer die noch grünen und die schon schwarzen, getrockneten Schalen der Walnüsse und blickte dabei aus dem Fenster hinaus in ein langsames Schneetreiben. Flocken taumelten auf und ab, als kennten sie keine Schwerkraft. Häufig sah sie ihn die Tuchmacherstraße herunterkommen. Er würde in den Jahren
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