Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
Vom Netzwerk:
gealtert sein und nach Fremde riechen. Wenn er wiederkäme, würde er schon sehen.
    Doch auf den kommenden Frühling und den Sommer ausdauernden Wartens und herbeigesehnter Schadenfreude folgte eine Zeit der Erschöpfung. Das Geschäft ging nur schleppend, kaum jemand verlangte Gedrucktes. Das Papier wurde teuer. Während Selma mit leerem Blick am Fenster saß, berechnete Helene nun in jedem Quartal neue Preise für Briefschaften und Todesanzeigen. Die Ansichtskarten verkauften sich so schlecht, dass sie schon seit Monaten keine mehr nachdrucken konnten. Speisekarten wurden kaum noch bestellt, die meisten Wirte schrieben ihre wenigen Gerichte jetzt auf Tafeln. Die Ersparnisse aus der Zeit vor dem Krieg, als die Druckerei noch florierte und Helenes Vater begonnen hatte, Ratgeber für die Ehe, Hefte mit Kreuzworträtseln und schließlich Gedichte zu drucken, verloren zusehends an Wert. Die Stückzahl der jährlich verkauften Kalender war zuletzt unter hundert gesunken. Allein die Einrichtung der Blätter für 1920 versprach mehr Kosten als Aussicht auf einen Absatz der Kalender.
    Einem nächtlichen Einfall folgend war Helenes Mutter dazu übergegangen, den seit vielen Jahren angestellten Schriftsetzer für Monate im Voraus zu bezahlen. Offenbar glaubte sie, auf diese Weise der Teuerung entgegenzuwirken, sie gewissermaßen zu überlisten. Aber es kamen immer weniger Aufträge, und der Schriftsetzer saß tatenlos unten in der Druckerei und löste Kreuzworträtsel, die Hefte stapelten sich im Lagerraum, weil keiner sie mehr kaufte. Aufgrund eines Minderwuchses mit zu kurzen Beinen hatte das Regiment den Mann im Krieg nicht haben wollen. Seine Frau und die acht Kinder hungerten mit ihm, manche der Kinder bettelten auf dem Kornmarkt um Brot und Schmalz, immer wieder wurden sie beim Stehlen von Äpfeln und Nüssen erwischt.
    Eines Abends fand Selma in der Tasche des Kittels, den der Schriftsetzer bei Feierabend neben die Tür gehängt hatte, eine Handvoll Zuckerwürfel, die sie aufgrund von Farbe und Form unschwer als aus ihrer Küche gestohlen zu erkennen glaubte. Am nächsten Morgen war sie den Anblick des tatenlosen Mannes leid. Selma verspürte einen starken Widerwillen, mit ihm über den Zucker und das Stehlen und die Kosten seiner Arbeitskraft zu sprechen. Sie erwartete Ausreden und suchte lieber einen Ausweg, einen endgültigen. Sie würde ihm auftragen, ihre jüngere Tochter das Schriftsetzen und den Umgang mit den Lettern und der Presse zu lehren. Schließlich würde sie Helene für die selten anfallenden Arbeiten und die wenigen Aufträge, die überhaupt noch kamen, nicht bezahlen müssen.
    Das Mädchen langweilte sich in seinem letzten Schuljahr zu Tode, es wurde Zeit, dass es sich nützlich machte. Helenes Drängen, auf eine Höhere Töchterschule zu gehen, gab die Mutter nicht nach. Wo sie sich schon bisher in der Schule so gelangweilt hatte, schien es in den Augen der Mutter ein allzu kostspieliges Vergnügen, diese gepflegte Faulenzerei noch um zwei Jahre zu verlängern.
    Selma Würsich stand am Fenster und schaute die Tuchmacherstraße hinauf, sie hielt sich den Morgenmantel zu, seit Tagen konnte sie den Gürtel ihres Morgenmantels nicht finden, die Glocken läuteten, gleich würden ihre Töchter aus der Kirche kommen. Allein die Vorstellung, dass ihre Tochter Lehrerin werden könnte und in ihrer kindlichen Unbefangenheit einmal den Wunsch nach einem medizinischen Studium geäußert hatte, behagte Selma nicht. Aufmüpfig und widerborstig ist das Kind, flüsterte sie für sich.
    Martha hatte Helene am Arm, als sie vom Kornmarkt her die Straße entlangschlenderten. Auf der Vitrine entdeckte Selma ein Geschenkband aus violettem Atlas. Ihr Hausmädchen musste es ordentlich zusammengerollt und dort abgelegt haben. Selma band es sich an Stelle des fehlenden Gürtels um den Morgenmantel. Mit großer Sorgfalt knüpfte sie eine Schleife und lä chelte über ihren Einfall. Jetzt hörte sie das hohe Läuten der Tür.
    Kommt herauf, ich möchte mit euch sprechen! Oben am Geländer stand die Mutter und winkte Helene und Martha zu sich hinauf. Die Mutter wartete nicht, bis die Mädchen Platz genommen hatten.
    Seit Jahren führst du die Bücher, Helene, es schadet nichts, wenn du die praktische Arbeit lernst. Die Mutter warf einen vorsichtigen Blick zu ihrer älteren Tochter, sie fürchtete deren Kritik. Aber Martha schien in Gedanken woanders zu sein. Schon jetzt könnte ich die Abgaben nicht ohne deine Buchführung

Weitere Kostenlose Bücher