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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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dem Vater dieses Leben mit seiner Frau lieber als die Aussicht, ohne sie zu leben.
    Hatte er sich früher noch gegen das Auflesen und Ansammeln gesträubt, ihr hier und dort geraten, einen Gegenstand aus dem Haus zu entfernen, worauf sie ihm lang und breit die Verwendung für den Gegenstand erklärte, es konnte ein besonders angelaufener Kronkorken sein, von dem sie sich das Beobachten einer Metamorphose versprach, so befragte er seine Frau in den letzten Jahren nur nach dem Zweck eines Dings, wenn ihm der Sinn nach einer Liebeserklärung stand. Ihre Liebeserklärungen zu den gemeinhin überflüssig und wertlos erscheinenden Dingen waren die aufregendsten Erzählungen, die Ernst Ludwig Würsich kannte.
    Einmal saß Helene in der Küche und half dem Mariechen beim Einwecken der Stachelbeeren.
    Wo sind die Apfelsinenschalen, die ich zum Trocknen in die Kammer gehängt habe?
    Verzeihung, gnädige Dame, beeilte sich das Hausmädchen zu sagen, sie liegen in einer Zigarrenschachtel in der Kammer. Wir brauchten den Platz für die Holunderblüten.
    Holunderblüten, Tee! Verächtlich blähte die Mutter ihre Nasenflügel. Das riecht nach Katzenurin, Mariechen, wie oft habe ich das schon gesagt? Pflück Minze, trockne Schafgarbe, aber keine Holunderblüten.
    Mein Täubchen, mischte sich jetzt der Vater ein. Was möchtest du mit den Apfelsinenschalen anstellen? Sie sind schon vertrocknet.
    Ja, sie erinnern an Leder, findest du nicht? Die Stimme der Mutter wurde samtig, sie geriet ins Schwärmen. Apfelsinenschalen, in einer sich windenden Schlange von der Frucht geschnitten und zum Trocknen aufgehängt. Ist der Duft in der Kammer nicht berauschend? Und wie sie sich drehen, wenn man sie an einem Faden über den Ofen hängt – das ist einfach zu schön. Warte, ich zeigs dir. Und schon stürmte die Mutter wie ein junges Mädchen zur Kammer, suchte die Zigarrenkiste und nahm mit vorsichtigen Händen die Apfelsinenschalen heraus. Wie Haut, findest du nicht? Sie nahm seine Hand, damit er die Apfelsinenschale streichelte, er sollte sie ebenso streicheln wie sie, damit er fühlte, was sie fühlte, damit er wusste, wovon sie sprach. Die Haut einer jungen Schildkröte.
    Helene beobachtete, wie zärtlich ihr Vater seine Frau ansah, er verfolgte, wie sie mit den Fingern über die getrocknete Schale der Apfelsine strich, sie an ihre Nase hob, die Lider senkte, um ihre Nüstern zu blähen und daran zu riechen, und offensichtlich wollte er ihr nicht sagen, dass die Zeit des Heizens vorbei war. Sie würde die Apfelsinenschalen bis zum nächsten Winter in der Zigarrenschachtel aufbewahren, bis zum übernächsten, für immer, niemand durfte etwas wegwerfen, und Helenes Vater wusste warum. Helene liebte ihren Vater für sein Fragen und Schweigen im richtigen Augenblick, sie liebte ihn, wenn er ihre Mutter ansah wie jetzt. Im Stillen dankte er gewiss Gott für diese Frau.

Knapp zwei Jahre nach Kriegsende schaffte es Ernst Ludwig Würsich endlich, sich zusammen mit einem aus Dresden stammenden und ebenfalls zurückkehrenden Pfleger auf den Heimweg zu machen. Es wurde ein mühsamer Weg, den er größtenteils auf einem Karren saß und von dem Pfleger gezogen wurde, einem Pfleger, der ihn je nach Tageszeit beschimpfte, morgens, weil er sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigte, die er verursachte, mittags, weil er viel zu weit wollte und abends, weil er trotz fehlenden Beins wohl einige Kilo zu schwer wog.
    Zu seiner Enttäuschung hatte man ihn aufgrund der Verspätung, mit der er sich erst Wochen nach Kriegsbeginn in der Kaserne gemeldet hatte, aus dem vier Jahre zuvor errichteten 3. Sächsischen Husaren-Regiment verwiesen. Wem hätte er anvertrauen können, dass seine Frau zu Hause sagte, sie liege im Sterben, und dass ihm ohne ihr Dasein der Sinn für jegliche Heldenhaftigkeit zu fehlen drohte? Doch was gewiss noch schlimmer wog, und weshalb er vielleicht mit niemandem über das drohende Sterben seiner Frau sprechen konnte: Es war keineswegs die erste Gelegenheit, die sie zu dieser Äußerung veranlasste. Obwohl er seit einigen Jahren mit ihren Worten im Ohr lebte, die Anlässe waren verschiedene, gab es keine Gewöhnung an diese äußerste Bedrohung. Auch pflegte er ein Bewusstsein dafür, wie wenig diese Worte irgendeiner Garnison etwas anhaben konnten und dem Befehl seines Staates zur unbedingten Gefolgschaft je als Grund zur Verweigerung gelten mochten. Vor einem Deutschen Reich, dem er den Einsatz seines Lebens schuldig war, erschien das

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