Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Bein. Sie stützte sich auf die Papierablage und trat und trat, bis sich das große Rad immer schneller drehte und das Reiben der Walzen ein wunderbar tiefes Geräusch verursachte. Sie schwitzte, aber sie konnte nicht aufhören.
Tagsüber zeigte ihr der Schriftsetzer den Umgang mit der Heftmaschine, der Anpressmaschine und der Blechklammermaschine, beflissen kam er seinem Auftrag nach, und doch bemerkte er immer wieder mit einem Augenzwinkern, die Monopol gehorche nur ihrem Meister. Offenbar empfand er sich selbst seit der Abwesenheit des Vaters als dieser Meister. Dem Schriftsetzer behagte die Gewissheit seiner vermeintlichen Unabkömmlichkeit.
Niemand wusste, dass sich zwischen Helene und dem Schriftsetzer über die vergangenen Jahre ein freundschaftliches Arbeitsverhältnis entwickelt hatte. Er war der erste erwachsene Mensch, der Helene ernst nahm. Schon seit sie mit sieben Jahren begonnen hatte, die Bücher ihres Vaters zu führen und nun in dessen dem Krieg geschuldeten Abwesenheit Einkäufe und Buchführung übernahm, begegnete ihr der Schriftsetzer mit großer Ehrerbietung. Er nannte sie Fräulein Würsich, das gefiel Helene. Jede ihrer Rechnungen akzeptierte er anstandslos.
Selbst als Helene nach Kriegsende seinen Wünschen auf Lohnerhöhung nicht in vollem Umfang nachkam, änderte sich nichts an seiner freundlichen Haltung gegenüber dem Mäd chen. Sie war diejenige, mit der er über die anstehenden Erledigungen in der Druckerei sprach. Und musste eine der Maschinen gewartet werden, so hielt der Schriftsetzer Rücksprache mit Helene. Besonders seit ihre Mutter wieder über Monate im oberen Teil des Hauses verschwand, wo sie die Gardinen schloss und den Fenstern den Rücken kehrte. Helene mochte den Schriftsetzer. Sie war es, die hinauf in die Küche ging, dort die Speisekammer aufsuchte, sich mehrfach umblickte, um sicher zu sein, dass niemand sie ertappen konnte, und eine aus Zeitung gerollte Papiertüte mit Graupen füllte, eine zweite mit Grieß und in die dritte schließlich eine Gurke, einen Kohlrabi und eine Handvoll Nüsse steckte. Als sie eines Tages im obers ten Fach der Speisekammer den riesigen Karton Würfelzucker entdeckte, riss sie ohne Zögern eine Seite aus dem Bautzener Wirtschaftskalender, wickelte einen ordentlichen Stapel Zu ckerwürfel ein und brachte auch den dem Schriftsetzer.
Kaum war der Schriftsetzer abends gegangen, übte Helene heimlich das Treten der Monopol. Nach einigen Tagen übte sie nicht nur mit dem rechten, sondern auch mit dem linken Bein. Sie übte, bis sie nicht mehr konnte. Und wenn sie nicht mehr konnte, übte sie weiter, sie übte das Nichtmehrkönnen zu überwinden und übte weiter. Am Abend fühlte sie, wie fest ihre Beine wurden, und am nächsten Morgen spürte sie ein ungewohntes Ziehen, dessen Bezeichnung sie bislang nur aus den Mündern der Jungen kannte: Muskelkater. Es sollte den Namen Muskelkater tragen, was für ein komisch ernsthafter Name.
Eines Abends erklomm sie den im Boden verankerten Hocker ihres Vaters. Zu ihrem Erstaunen brauchte sie ihre Beine nicht einmal auszustrecken, der Hocker schien für sie gebaut worden zu sein. Sie setzte beide Füße auf das Pedal und trat los, dabei musste sie den Bauch fest anspannen, und es kitzelte angenehm, sie hatte ein Flattern im Bauch wie beim Schaukeln. Sie musste an Marthas Hände und an Marthas weiche Brüste denken.
Erst als Selma Würsich einige Wochen später fragte, ob ihre Tochter endlich alles gelernt habe, führte der Schriftsetzer Helene an die Schneidemaschine. Bisher hatte er es vermieden, sie auch nur in die Nähe der Maschine zu bringen. Ihn erfasste jetzt eine dunkle Ahnung. Er betrachtete ihr blondes Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten trug, und nur zögerlich kamen ihm die Worte über die Lippen. Knapp waren seine Kommentare: Erst öffnen. Dort einstellen. Der Schriftsetzer schob die Lineale wie Leisten übereinander. Hier anlegen.
Ohne ein Wort der Entschuldigung schob der Schriftsetzer Helene ein wenig zur Seite, er zeigte ihr schweigend, wie sie den Papierstoß erst schlagen und dann begradigen musste, um ihn in die Maschine einzupassen. In seinen Augen war die Schneidemaschine gefährlich, nicht, weil Helene ein zartes Mädchen von gerade mal dreizehn Jahren war, sondern weil sie nun alle Maschinen bedienen konnte, alle, mit Ausnahme der Mo nopol.
Aus Anlass von Marthas zweiundzwanzigstem Geburtstag ließ die Mutter das Mariechen einen Rinderbraten mit Thymian kruste
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