Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
notierte. Das starke Beruhigungsmittel begann zu wirken.
»Ich bin eine Mandel«, nuschelte Marianne noch und schlief ein.
3
I n ihrem Traum saß sie auf dem Pont Neuf. Sie nahm die Armbanduhr ab, die sie gar nicht besaß, zertrümmerte das Glas auf dem Stein, riss die Zeiger des Zifferblattes herunter und warf sie in den Fluss.
Niemandem konnte die Zeit jetzt noch dazwischenkommen. Die Zeit würde stehenbleiben, sobald sie sprang, und keiner würde Marianne daran hindern, ins Meer hineinzutanzen.
Doch als sie sprang, fiel sie langsam, wie durch flüssiges Harz gebremst. Aus dem Wasser stiegen Körper auf; sie schwebten an ihr vorbei, nach oben, während Marianne fiel. Sie erkannte die Gesichter. Jedes einzelne. Es waren ihre Toten. Die aus dem Sterbehospiz, in dem Marianne gearbeitet hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war. Zu denen niemand sonst ging, aus Angst, sich mit dem Sterben anzustecken. Marianne hatte ihre Hände gehalten, wenn es so weit war; und an Mariannes Händen geführt, gingen sie hinüber in das Nichts.
Manche wehrten sich, verzweifelt, wimmernd. Andere schämten sich ihres Sterbens. Aber alle hatten sie Mariannes Blick gesucht und sich an ihm festgehalten, bis ihre Augen erloschen.
Auch im Traum suchten sie Mariannes Blick und griffen nach ihren Händen. Stimmen, die jeden unerfüllten Traum betrauerten, jeden nicht gegangenen Schritt, jedes nicht gesprochene Wort, vor allem die zornigen. Das Ungetane war es, das sich keiner der Todgeweihten je verzeihen konnte. Alle hatten es Marianne auf dem Sterbebett gestanden, was sie im Leben nicht getan hatten, was sie versäumt hatten zu wagen.
Das Licht war hell und gleißend, und als sie die Augen öffnete, stand Lothar am Ende des Betts. In seinem dunkelblauen Anzug mit den Goldknöpfen sah er aus wie von einer Jacht heruntergesprungen. Und neben ihm stand eine Frau in Weiß gekleidet. Ein Engel?
Auch hier war es furchtbar laut, Maschinen piepten, Menschen redeten, ein Fernseher lief. Marianne legte ihre Hände an die Ohren.
»Hallo«, sagte sie nach einer Weile.
Lothar drehte sich zu Marianne um. In seinen Augen konnte sie sich selbst nicht sehen. Er kam näher und beugte sich über sie. Betrachtete Marianne wieder, als ob er sich nicht sicher wäre, was er da sah.
»Was sollte das?«, fragte ihr Mann schließlich.
»Was sollte was?«
Er schüttelte den Kopf. Als ob er es nicht fassen konnte.
»Dieses Theater.«
»Ich wollte mich umbringen.«
Lothar stützte die Hand neben ihrem Kopf ab. »Wozu?«
Bei welcher Lüge konnte sie nur anfangen? »Ist schon in Ordnung«, wo nichts in Ordnung gewesen war? Oder: »Mach dir keine Gedanken«, wo er sich welche hätte machen müssen?
»Ich … Ich …«
»Ich, ich«, knurrte Lothar. »Das ist mal ein guter Grund. Ich.«
Wieso sagte sie ihm nicht: Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Lieber sterbe ich, als weiter mit dir zu leben.
Marianne versuchte es noch einmal. »Ich … ich will …« Sie stockte wieder. Ihr Mund war wie mit Sandstein gefüllt.
»Ich wollte tun, was ich will.«
Ihr Mann setzte sich auf.
»Tun, was du willst! Aha. Und das kommt dabei heraus, ja? Sieh dich doch nur an.«
Er lachte auf. Sah zu der Schwester, die immer noch da stand und sie beobachtete, und lachte, und dann lachte die Schwester mit, als säßen sie im Zirkus, und der Clown fiele gerade über seine Füße.
Marianne spürte Hitze in ihren Wangen aufsteigen.
Lothar setzte sich wieder auf die Bettkante und drehte ihr den Rücken zu. Sein Lachen hatte abrupt aufgehört.
»Als der Anruf kam, war ich nur noch auf Autopilot. Dein Menü musste ich natürlich zahlen. Ob du dich umbringst, ist dem Koch reichlich egal.«
Marianne zog die Bettdecke höher. Doch ihr Mann saß darauf, und sie zerrte vergeblich. Sie fühlte sich nackt.
»Die Metro fährt nur bis eins. Und das nennt sich Weltstadt! Ich musste ein Taxi nehmen. Das kostet so viel wie der Bus von uns zu Hause bis nach Paris und zurück. Ist dir das klar?«
Lothar atmete hörbar aus, als ob er kurz davor wäre, zu schreien.
»Weißt du überhaupt, was du mir da angetan hast? Willst du, dass wir uns fremd werden? Dass ich jede Nacht das Licht anlassen muss, um nach dir zu sehen?«
»Es tut mir leid«, presste Marianne hervor.
»Ach. Leid. Und an wem bleibt das hängen? Weißt du, wie einen die Leute angucken, wenn sich die Frau umbringt? Das kann einem alles ruinieren, alles. Daran hast du nicht gedacht, als du machen wolltest, was du
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