Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
geschlossen, wenn er zu ihr kam und sich fünf Minuten in ihr ausruhte.
Dann registrierte Marianne ihre nackten Beine. Verzweifelt versuchte sie, den triefend nassen Saum des Kleides herabzuziehen und gleichzeitig die Knöpfe am Busen zu schließen.
Sie schlug die ausgestreckte Hand des Mannes zurück, der ihr aufhelfen wollte, und stand auf. Sie strich sich das Kleid glatt, das nass und schwer an ihr herunterhing. Ihre Haare rochen nach brackigem Wasser. Sie ging mit unsicheren Schritten auf die Quaimauer zu.
Zu wenig. Zu wenig, um sich herabzustürzen, sie würde sich verletzen, aber nicht sterben.
»Madame!«, bat der Mann, eine volle Stimme, und griff nach ihrem Arm. Sie schlug die Hand erneut weg. Schlug mit beiden Händen nach ihm, seinem Gesicht, seinen Armen, mit geschlossenen Augen, doch traf nur Luft. Dann trat sie nach ihm. Er wich aus, ohne zurückzuweichen. Für andere musste es so aussehen, als tanzten sie eine tragische Komödie der Liebe.
»Mir!«, stieß sie hervor, Tritt um Tritt, »mir gehörte mein Tod, mir und sonst niemandem, Sie durften ihn mir nicht wegnehmen!«
»Madame«, bat er erneut und umschlang Marianne mit beiden Armen. Er hielt sie fest, bis sie aufhörte, nach ihm zu treten, und sich schließlich erschöpft an seine nackte Schulter lehnte. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, seine Fingerkuppen spröde wie Stroh. Er roch nach Übernächtigung und der Seine, und er roch nach Äpfeln auf einem sonnenwarmen Holzregal.
Er begann, sie in seinen Armen zu wiegen, so sanft, wie sie noch nie gewiegt wurde.
Marianne begann zu weinen. Sie versteckte sich in den Armen des Fremden, und er hörte nicht auf, sie zu halten und zu wiegen, während sie weinte, um ihr Leben, um ihren Tod.
»Mais non. Non.« Der Mann schob sie ein Stück von sich fort, hob ihr Kinn an und sagte: »Venez avec moi. Venez. On y va. Allez.«
Er zog sie mit sich. Marianne fühlte sich unendlich kraftlos, die groben Steine stießen ihr in die nackten Fersen. Der Mann ließ sie nicht los, während er sie hinauf zum Pont Neuf führte.
Als sie die Brücke betraten, verscheuchte der Fremde mit einem Pfiff zwei Clochards, die sich über zwei Paar Schuhe – Damen- und ungleiche Herrenschuhe – beugten; der eine hatte Mariannes Mantel an seine Brust gedrückt, der andere mit der verfilzten Wollmütze biss gerade auf den Ehering und verzog das Gesicht.
Als sie auf derselben Höhe waren, zischte der Mann die beiden Clochards an. Der größere zog ein Mobiltelefon hervor. Der kleinere hielt Marianne abwartend den Ehering hin.
Jetzt fing Marianne an zu beben, der Schüttelfrost stieg aus den Tiefen ihres Körpers empor und wusch durch ihre Adern.
Sie schlug dem Clochard den Ring aus der Hand und wollte auf die Brüstung klettern, doch alle drei Männer sprangen gleichzeitig nach vorn und hielten sie fest. In ihren Augen sah Marianne nur Mitleid und Angst, für etwas belangt zu werden, das sie nichts anging.
»Fasst mich nicht an!«, schrie sie. Keiner ließ sie los.
Sie ließ sich widerwillig auf die Bank setzen, der Große legte seinen schweren Mantel um Mariannes Schultern, der andere kratzte sich an der Mütze und kniete sich auf eine ruppige Anweisung hin nieder, um Mariannes Füße mit dem Ärmel seiner Jacke zu trocknen.
Ihr Retter telefonierte. Die Clochards setzten sich neben Marianne auf die Bank. Sanft hielten sie ihre Hände fest, als sie versuchte, sich in die Pulsadern zu beißen. Einer von ihnen bückte sich und legte Marianne ihren Ehering in das hohle Nest ihrer Hände.
Sie starrte auf den matten, gelbgoldenen Reif. Einundvierzig Jahre hatte sie ihn getragen. Nur einmal hätte sie ihn abgelegt. Beinahe. An ihrem vierzigsten Hochzeitstag. Sie hatte das graue Blumenkleid aufgebügelt, die Bananenknoten-Frisur aus einer Zeitschrift abgeschaut. Aus einer drei Monate alten Zeitschrift, die sie aus einem Altpapiercontainer gezogen hatte. Sie hatte ein wenig Chanel-Parfüm benutzt, eine Probe, die der weggeworfenen Zeitschrift beigelegen hatte; es roch blumig, und sie hätte gern ein rotes Halstuch gehabt.
Dann öffnete sie die Sektflasche und wartete auf ihren Mann.
»Wie siehst du denn aus?«, war Lothars erste Frage gewesen.
Sie hatte sich vor ihm gedreht und ihm den Sekt gereicht.
»Auf uns«, hatte sie gesagt, »Auf vierzig Jahre Ehe.«
Er hatte genippt und dann an ihr vorbei zum Kacheltisch gesehen, auf dem die geöffnete Flasche stand.
»Den teuren Sekt? Muss das sein, weißt du, wie viel
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