Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Und …
Mariann.
Die Mariann war ein zierliches rotes Schiff, das ein wenig vergessen am Rande dümpelte; seine Segel waren schlaff.
Mariann.
Wie schön es dort war. Die Musik aus dem Radio schien dorthin zu passen, so fröhlich, so zärtlich. Sonnig und frei.
Als Marianne das zweite Mal abbeißen wollte, schluchzte sie so heftig auf, dass sie husten musste. Die Krümel explodierten, mit Spucke und Tränen vermischt, aus ihrem Mund.
Das Ungetane. Das war es, was die Toten ihr hatten mitteilen wollen. Das Ungelebte. Es gab im Leben Mariannes nur Ungelebtes.
Marianne betrachtete den Schlauch in ihrer Hand, dann zog sie ihn ruckartig heraus. Es blutete.
Daran werde ich auch nicht sterben, außerdem habe ich die Unterhose seit gestern früh an, wie sieht das denn aus, wenn sie mich in die Kühlschublade stecken?
Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort und blinzelte. Sie hatte in den letzten Stunden mehr geweint als in den Jahrzehnten davor; das musste aufhören, es nützte doch nichts.
Sie sah wieder auf die Fliese und konnte den Anblick der schlaffen Segel der Mariann nicht ertragen. Sie drehte die Kachel um.
Auf der Rückseite war eine Inschrift: Port de Kerdruc, Fin.
Marianne aß das letzte Stück der Madeleines und hatte immer noch Hunger.
Kerdruc. Sie drehte die Fliese wieder um und roch an ihr. Roch sie nicht … nach Meer?
Niemals an einem so schönen Ort gewesen.
Marianne versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Lothar und sie an so einem Ort gewesen wären. Doch alles, was sie vor ihrem inneren Auge sah, war Lothar vor dem gefliesten Wohnzimmertisch. Sie sah die alten Zeitschriften der Nachbarn, die er parallel zu den Fugen auf dem Wohnzimmertisch anordnete. Ganz gerade. Sie hätte ihm dankbar sein müssen, für die Ordnung, die er in ihr Leben gebracht hatte. Das war ihr Zuhause. Das letzte Haus am Ende einer Sackgasse.
Marianne streichelte wieder die Fliese.
Ob Lothar die Orchidee wohl gießen wird?
Marianne lachte kurz auf. Bestimmt nicht.
Kerdruc. Wenn es am Meer war, dann …
Marianne schrak zusammen, als sich hinter ihr die Tür öffnete. Nicolette. Zornig redete sie auf Marianne ein und bedeutete ihr mit einer herrischen Handbewegung, nach oben zu kommen. Marianne konnte ihr nicht in die Augen sehen, als sie sich neben der Schwester zurück in den hellen Flur drückte und sich widerstandslos in ihr Zimmer zurückdirigieren ließ.
Routiniert legte Nicolette ihr einen neuen Tropf an und presste Marianne zwei rosa Tabletten zwischen die Lippen.
Gehorsam tat sie so, als schlucke sie die Pillen mit dem abgestandenen Wasser auf dem Nachttisch. Ihre Bettnachbarin weinte im Schlaf wie ein wimmerndes Lamm.
Als Nicolette das Licht löschte und die Tür hinter sich zuzog, spuckte Marianne die Pillen aus.
Dann zog sie die Fliese hervor, die sie unter dem Hemd an ihr Herz gedrückt hatte.
Kerdruc. Marianne streichelte über das Bild. Es war absurd, aber es war, als ob sie die milde Luft unter ihren Fingern spürte, und sie erschauerte.
Marianne erhob sich und schritt langsam zum Fenster. Der Wind höhnte. Ein Grollen näherte sich; der Himmel riss auf, und ein Blitz erleuchtete für Sekunden das Zimmer. Regen setzte ein und prasselte gegen die Fensterscheiben wie Perlen einer gerissenen Kette. Das Mondlicht vergrößerte die Tropfen und ließ sie auf der Erde tanzen. Sie kniete sich nieder und fuhr mit dem Finger die Kanten des Fensterschattens nach, den Lunas Laterne aus der Nacht herausgeschnitten und ihr zu Füßen gelegt hatte. Der Donner grollte, als würde das Gewitter direkt über dem Krankenhaus schweben.
Mein kleines Frauchen, das Angst vor einem Gewitter hat.
Lothar.
Sie hatte keine Angst vor Gewittern. Sie hatte ihm zuliebe so getan, damit er Marianne damit aufziehen und sich großartig fühlen konnte. Zu solchen Dummheiten hatte sie sich dauernd hinreißen lassen.
Sie sah hinaus in den entzweigerissenen Himmel und umfasste zögernd ihre vollen Brüste mit beiden Händen. Lothar war der erste Mann gewesen, und der einzige; sie war aus der Jungfräulichkeit ungeküsst in die Ehe geglitten. Er war ihr Zuhause gewesen, seit sie ihr Elternhaus verlassen hatte.
Mein Mann hat weder meine Seele berührt noch meinen Körper bezaubert. Warum habe ich das zugelassen? Warum?
Sie ging zu den Schränken, in denen sie ihre Kleider fand. Sie rochen brackig. Marianne wusch das Kleid aus, fand ein Deodorant und sprühte es damit ein; nun roch es nach Rosen und
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