Die Monster-Strige
sahen wir ihn als kleinen Punkt am Horizont.
Wieder öffnete Ken Finlay die Rollos, und er erklärte, daß er den zweiten Teil nur unterbrochen hätte, um unsere Meinungen zu hören.
»Es ist schon imposant gewesen«, sagte Suko.
»Ja, so holt sich die Strige die Beute. Und sie ist verfressen, das sage ich euch.«
»Frißt sie nur Fleisch?«
»Ja.« Die Antwort klang gepreßt. »Ich werde Ihnen nun die letzten Minuten dieses Films vorspielen.« Mehr sagte er nicht, dunkelte wieder ab, und der Film lief weiter.
Schnitt. Eine idyllische Gegend wurde uns präsentiert. Wir sahen wieder einen See, diesmal kleiner. Herrlich klares Wasser, seichte Ufer, die von lichten Birkenwäldern umgeben waren. An einer Stelle des Ufers entdeckten wir eine Frau, die einen Kahn ins Wasser schob, die Jeans hochgekrempelt hatte und rasch in das Boot stieg, als es auf dem Wasser tanzte.
Ich runzelte die Stirn.
Neben mir atmete Suko scharf aus.
Und auch ich konnte mir denken, was da möglicherweise passieren würde. Zunächst aber ruderte die Frau mit kräftigen Bewegungen auf die Mitte des kleinen Sees zu, und kurz vor ihrem Ziel holte sie die Ruder ein und ließ sich treiben.
Wir hatten damit gerechnet, daß sie sich in das Boot legen würde, aber das tat sie nicht, denn sie kniete sich hin und legte ihr Oberteil, eine Bluse ab.
Die Hose folgte, und einen Moment später präsentierte sie sich nackt.
Die Frau hatte dunkle Haare, sie lachte, stand breitbeinig in dem Boot und winkte, als wollte sie den Kameramann grüßen, der sie aus dieser Entfernung filmte.
Dann stieg sie auf die schmale Ruderbank, streckte ihren Körper und hechtete ins Wasser.
Lachend winkte sie dem Kameramann zu, als sie wieder auftauchte, um erneut im Wasser zu verschwinden.
Es war still im ›Kino‹ geworden. Dennoch hörten wir die schweren Atemzüge Ken Finlays, vernahmen auch sein Räuspern und sahen dann den Schatten, der von rechts her in das Bild hineinglitt.
Die Monster-Strige war da.
Blitzschnell mußte sie erschienen sein. Sie kreiste über dem kleinen See, als sollte er ihre Beute werden, aber vom Wasser wollte sie nicht trinken, sie lauerte auf das richtige Opfer. Noch schwamm es unter Wasser.
Dann schoß die Frau wieder hoch.
Finlay hüstelte.
Die Frau trat Wasser. Sie schleuderte ihre Haare aus dem Gesicht, um besser sehen zu können, und genau in diesem Augenblick fiel ihr auf, daß es über ihr dunkler geworden war. Sie suchte nach dem Grund.
Okay, wir sahen ihr Gesicht nicht aus der Nähe, aber zumindest ich glaubte daran, den Schrecken darin zu sehen, denn jetzt wußte sie, wer über ihr schwebte. Die Schwimmerin riß die Arme hoch, als wollte sie etwas abwehren, dann beugte sie sich nach vorn und versuchte fluchtartig wegzutauchen.
Das fliegende Untier war schneller. Blitzartig stieß es nach unten. Der Riesenschnabel durchschnitt das Wasser auf der Suche nach der Beute.
Das Wasser schäumte auf. Was dann geschah, war für uns nicht zu erkennen, da uns der breite Körper des Monstrums die Sicht nahm. Die Strige wirbelte herum, präsentierte uns ihr Profil, und wir hatten nur Augen für den verdammten Schnabel.
In ihm steckte die Beute. Es war die Frau!
Jetzt stöhnte Suko, und es war wirklich fürchterlich, was wir da ansehen mußten. Nein, wir sahen es nicht, denn Ken Finlay war gnädig und stellte die Maschine ab. Dabei sagte er: »Ich habe das wie im Rausch gefilmt. Ich konnte nicht anders. Etwas zwang mich, dieses Grauen für die Nachwelt festzuhalten, und ich muß Ihnen sagen, daß es schlimm, sehr schlimm war.«
Wir gaben ihm durch unser Schweigen recht.
Er schaltete das Licht ein. Wir drehten uns nicht um. Mit schlurfenden Schritten kam er näher und blieb dort stehen, wo er bei der ersten Unterbrechung schon einmal gestanden hatte. Diesmal mit gesenktem Kopf, das Gesicht blaß und schweißnaß. Die Szene hatte ihn stark mitgenommen.
»Ich habe sie gefilmt«, sagte er. »Ich habe Sie wirklich gefilmt. Sie ist eine so schöne Frau gewesen. Schön und zugleich jung. Eine Russin aus St. Petersburg.«
»Kannten Sie die Frau näher?« fragte ich.
Er schaute mich an. Seine Augen waren groß, und sein Gesicht sah aus, als wollte er sich etwas in Erinnerung rufen, das sehr schön, aber auch sehr bitter gewesen war. »Ja, ich kannte sie näher oder gut, Mr. Sinclair. Sie war meine Partnerin…«
***
Wir schwiegen. Es gibt Momente im Leben, da schweigt man besser, anstatt irgendwelche Worte zu sagen, die keinen Sinn
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