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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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verloren, mein Junge, für immer.

Cowboygesichter
    In der Woche nachdem das Ungeheuer abtransportiert worden war, glitt Templeton langsam in den August hinüber. Wir alle träumten von dem Tier, von seinen langfingrigen Händen, seinem zarten Hals. Wir stellten uns vor, wie es wäre, in seinem uralten Gehirn zu sitzen, sahen das dunkle Wasser vor uns, während es blitzschnell durch die kalten Tiefen schoss. Das blattdünne Zittern des Mondes durch das Wasser hindurch. Den Gletscher, der am Grunde des Sees noch immer vor sich hin schmilzt, ein schimmerndes, phosphoreszierendes Blau. Diejenigen, die Templeton liebten, empfanden den Verlust des Ungeheuers wie den Phantomschmerz von einem Körperteil, das es nicht mehr gibt.
    So war es auch kein Wunder, dass sich über unseren Weiler eine blaugraue Wolke gelegt hatte, selbst an den heißesten, sonnigsten Tagen. Selbst an den Tagen, an denen die Touristen sich laut und zahlreich auf der Main Street drängten, befanden wir uns in einer Art verschwommenem Traumzustand, wenn wir für sie Eiscreme auf die Waffeln schaufelten, die Farne an den Laternenpfosten gossen oder ihnen Kappen und Bälle und Schläger verkauften. In dem schönen alten Krankenhaus, in dem sie arbeitete, fand Vi, dass die Kranken weniger verdrießlich und dafür verklärter waren, dass sie leiser starben als früher und sich weniger gegen den dunklen Ansturm des Todes auflehnten. In Pomeroy Hall – einst ein Waisenhaus und jetztein Altersheim – stank es weniger nach Inkontinenz und roch es mehr nach der Luft, die vom See hochwehte. In jedem offenen Fenster sah man alte Leute sitzen, die schnuppernd ihre Nasen in den Wind hielten, um die Veränderung zu riechen, die sie in ihren Knochen spürten.
    In jener Woche hörten wir von den Behörden nichts über das Ungeheuer. Es herrschte ein langes, verwirrtes Schweigen. Nach wilden Spekulationen über die Herkunft des Tieres – «Der letzte Dinosaurier der Welt» oder: «Wissenschaftler fragt: Das fehlende Glied?» oder: «Der Fisch vom Mars!» – wandten sich die Zeitungen anderen Themen zu. In den traurigen und grauen Teilen der Welt herrschte Krieg. Ein Virus tötete Menschen auf Kreuzfahrtschiffen. Da gab es eine adoptierte Frau, die zum ersten Mal ihre leibliche Mutter treffen und gerade auf den Parkplatz einbiegen wollte, wo weinend ihre Mutter stand, als ein Sattelschlepper sie überrollte und tötete. Der übliche Niedergang der Welt. Als ich in jener Woche über diese Dinge las, ertappte ich manchmal meine Hände dabei, wie sie tastend über meinen immer noch flachen Nabel fuhren, als könnten sie dem Klümpchen die Augen zuhalten, damit ihm nichts passierte. Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte und der Geist wie in einem Nebel mein Zimmer umrundete, stellte ich mir das Klümpchen als einen sich drehenden Nukleus vor, der sich immer wieder in rote Zellblutkörperchen aufteilte, bis er nur noch einer halbierten Pampelmuse ähnelte. Eine Zeit lang konnte ich danach kein Obst mehr essen.
    Jeden Abend hörte ich den Anrufbeantworter ab, in der Hoffnung, die weichen, sonoren Klänge von Primus Dwyers Akzent darauf zu hören, selbst wenn er nur «Hallo» gesagt und wieder aufgelegt hätte. Jede Nacht stand ich da und lauschte dem anschwellenden Chor der Frösche im Tümpel draußen, wenn das Band des Anrufbeantworters mit einem Piepston stoppte, und fühlte eine große Leere in mir.
    In jener Woche war ich Ezekiel Felcher zweimal aus dem Weg gegangen, einmal in der Schlange des Cafés im Bauernmuseum, währendich auf das Mittagessen wartete und er an der Kasse stand und mit einem Typen aus der Stadt plauderte, den ich nicht kannte; und das andere Mal, als er, laut hupend vor Freude, einen Lieferwagen abschleppte, der mit Fanartikeln der Phillies vollgestopft war. Er selbst war, was ich aus der wackelköpfigen Spielzeugfigur auf dem Armaturenbrett schloss, ein Fan der Pittsburgh Pirates. Und ich begann Peter Lieder und die schlafende Ziegenfrau in der Bibliothek zu mögen, wo ich den größten Teil des Tages verbrachte, auf der Suche nach möglichen Vorfahren, die ich oft genug auch wieder verwarf. Claudia Starkweathers Mutter und Tante waren meine nächsten Opfer, doch Ruth und Leah Peck waren bereits zu wohlhabenden Verwandten nach New York geschickt worden, als sie zehn beziehungsweise acht Jahre alt gewesen waren. Nur Ruth war zurückgekehrt, und auch erst, als ihre eigene Tochter Claudia – meine Urgroßmutter – achtzehn und heiratsfähig war.

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