Die Monster von Templeton
Zu diesem Zeitpunkt war Ruth bereits eine alte Witwe, die sich hauptsächlich mit Unkrautjäten beschäftigte. Ruth und Leah Peck waren die Töchter von Guvnor Averells zweiter Tochter, Cinnamon, Sprosse ihrer fünften und letzten Ehe.
«Ich prüfe das gerade mal nach», hatte ich zu Vi gesagt. «Aber auf Ruth und Leah Peck geht mein Vater wohl nicht zurück, oder?»
«Soundso und Soundso Wie?», fragte sie.
«Ich glaube nicht», gab ich mir selbst die Antwort.
Ruth und Leah stammten von der Averell-Seite; ihr Gegenpart auf der Temple-Seite war Henry Franklin Temple, Sarahs Vater. Doch er schien ein ruhiger, nüchterner Zeitgenosse gewesen zu sein, und obwohl man bei Vorfahren nie ganz sicher sein kann, hatte ich den starken Verdacht, dass er niemals einen Ehebruch begangen hätte. Einige Tage lang glaubte ich dennoch an seine Schuld; voller Energie und mit dem Gefühl, kurz vor der Enthüllung des Geheimnisses zu stehen, entdeckte ich nämlich, dass Henry das Finch Hospital in Templeton für seine alte Freundin Isadora H. Finch gegründet hatte, die erste Ärztin im Staate New York. Nach umfangreichen Recherchen fand ich jedochheraus, dass Isadora in einer sogenannten Boston-Ehe mit einer Frau zusammengelebt hatte, die sie kennenlernte, als sie dreizehn und Elevin an Miss Porters Mädchenschule war. Alle nannten die Frau, mit der sie zusammenlebte, «ein Mannweib», und ich fand einen Brief von ihr, der an Isadora adressiert war und in dem sie sie liebevoll mit «meine Ehefrau» anredete. In diesem Moment wurde mein Verdacht hinfällig.
Es war ein heißer Tag, als ich zur nächsten Generation überging, und zwar auf beiden Seiten des Stammbaums. Ruth und Leahs Mutter war Cinnamon Averell Stokes Starkweather Sturgis Graves Peck gewesen, Hettys Enkelin und eine fünffache Witwe. Und Henrys Adoptivmutter war Charlotte Franklin Temple. Bei ihr handelte es sich um eine alte Jungfer, die nie eigene Kinder hatte, dafür aber sieben Schwestern, die sich in alle Himmelsrichtungen verteilt hatten, als man sie in jungen Jahren verheiratete. Charlotte war die Einzige gewesen, die in der Stadt blieb, als Tochter von Jacob Franklin Temple und selbst eine unbedeutende Schriftstellerin; ich genoss die Vorstellung, in der Vergangenheit einer solch beispielhaften Jungfrau herumzustochern und dabei vielleicht sogar eine Schwangerschaft zutage zu befördern, die sie mit ihrem Geld und Einfluss geheim gehalten hatte. Sie war diejenige, die das Pomeroy-Waisenhaus ins Leben gerufen hatte. Die kleine braune Maus auf jenem Aquarell war seit dem Tode ihres Vaters die First Lady der Stadt gewesen und bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein auch geblieben.
Ich hatte mich gerade in meinen Büchern vergraben und kaute gedankenverloren auf einem Füllfederhalter herum, als Peter Lieder mit seinem quietschenden Bücherwagen vorbeikam und in schallendes Gelächter ausbrach. Ich blickte stirnrunzelnd auf. Sein Adamsapfel vollführte ein wildes kleines Tänzchen über seiner Frackschleife.
«Das ist wirklich ein toller Look, Willie Upton», sagte er. «Todesengel trifft auf Vampir. Sehr
à la mode
.»
«Wie bitte?», fragte ich.
«Hier», sagte er, zog einen kleinen Klappspiegel aus der Tasche, und die Tatsache, dass der weltfremde Peter Lieder tatsächlich einen Taschenspiegel mit sich herumschleppte, stürzte mich in größere Verwirrung als die Bemerkung selbst. Als ich jedoch einen Blick in den Spiegel warf und sah, dass der Füller, an dem ich kaute, aufgeplatzt war und mir die Tinte nicht nur übers Kinn und auf den Hals gespritzt war und meine Zähne und die Zunge verschmiert hatte, sondern ich mir selbst die schwarze Soße in meiner Unwissenheit auch noch über Wangen und Stirn verteilt hatte, verstand ich, was er meinte.
«O ja», sagte ich. «Das ist krankhaft bei mir. Stimmt leider wirklich. Manchmal übt mein Zynismus unserer großen, hässlichen Welt gegenüber einen solchen inneren Druck auf mich aus, dass sich alles nach außen ergießt. Da kann ich nichts machen. Sorry.»
«Oh», meinte Peter Lieder. «Ich leide auch manchmal unter Füllerplatzeritis.»
«Wirklich?», erwiderte ich. «Und was machst du dagegen?»
Peter schaute sich kurz in der heißen Bibliothek um, und als ich seinem Blick folgte, sah ich, wie sich mit jeder Drehung des Ventilators die Härchen der alten Frau ein wenig in die Luft hoben und dann wieder nach unten sanken. Ich entdeckte zwei unglückliche Stubenfliegen, die in hektischen Parabeln wieder und
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