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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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wir verstummten. Vollkommen stumm wurden wir, von einer Sekunde zur andern. Und in solcher Stille begriffen wir auch, daß vorhin das Abbrechen der Musik gleich wie das Dunkelfallen der MORAWISCHEN NACHT einen Hintersinn gehabt hatte; beides signalisierte Gefahr. Reglos verharrten wir auf dem Deckstreifen vor der Tür, die in den sogenannten »Empfang« führte, von dem es zur einen Hand in den »Gastraum« oder das »Restaurant« ging, und zur anderen Hand in die Gäste- oder Hotelzimmer, die in Wahrheit, wie ja auch das »Restaurant«, dem Bootsinhaber als Wohn-, Schlaf- und Ausschaustätten dienten.
    Was wir dann rochen, war freilich nicht die Gefahr. Es war der Geruch der Morawa, wie sie in den Aprilnächten, bei der Schneeschmelze in den südlichen und westlichen Bergen ihrer Herkunft, so unsere Einbildung, seit Jahrtausenden schon gerochen hatte; dieser Geruch, so zumindest wiederum unsere Einbildung, war immerhin etwas, das all die Zeit gleichgeblieben war hier – höchstens, daß ihm noch ein Anhauch von etwas anderem beigemischt schien: von dem tief unten im Wasser verrottenden Eisen all der flußauf zerstörten Brücken (versteht sich, daß die längst wiederaufgebaut und noch und noch neue, auch für die Schnellgeschwindigkeitszüge, dazugekommen waren)?, von den sich in einem fort blähenden Leibern der Myriaden der Uferschilffrösche? Eher wohl von denen: Hatte nicht jeder von uns auf Dauer jenen Geruch in sich, den auch nur ein einziger Frosch, wenn ich ihn einfing, aus seiner warzigen Haut auf meine Hände absonderte?
    Unerwartet – oder auch nicht – jetzt unser Umarmtwerden durch den Bootsherrn. Einer nach dem andern wurden wir umarmt, wortlos, fest, ausdauernd, mit den gegenseitigen Wangenküssen, jeweils den obligaten drei, wie denn anders. Und es wurde uns die Tür zum Gehäuse aufgehalten, wie von einem Portier, und ebenso dann zu dem Salon oder Gastraum, wie von einem Empfangschef. Der Salon war geheizt, von einem zünftigen Kaminfeuer, willkommen in der Aprilflußnacht. Zum Staunen, so ein Feuer auf einem Boot, aber, wie gesagt, wir wunderten uns, nicht nur in jener Nacht, sondern schon seit langem über fast gar nichts mehr, insbesondere nichts, was mit unserem fernen Nachbarn zu tun hatte. Dieses Feuer, einmal lodernd, einmal bloße Glut, stellte für die weiteren Stunden die einzige Beleuchtung dar. Und die genügte, und ließ außerdem, durch die den Salon umlaufende Verglasung, den Blick ins Freie zu, auf die Morawa einerseits, und andererseits auf die Auwälder. Daß vieles in dem Raum so nur zu ahnen blieb, störte wohl niemanden; und auch nicht den Fortgang der Nacht – vielleicht im Gegenteil.
    Höchstens zu ahnen zum Beispiel waren Gesicht und Gestalt der Frau, die sich später unversehens zu der Gruppe gesellte. Sie schlüpfte herein von dem unbebauten Deckteil, nachdem die Gäste, von dem Bootsherrn alleingelassen, unschlüssig und, vor allem, unbewirtet im Salon herumgestanden hatten. Die Tische schienen zwar gedeckt, aber, oder täuschte das?, ein jeder nur für eine einzige Person. Gruppe oder Nicht-Gruppe: kein Anzeichen von etwas wie einer Tafel. Ein jeder Tisch für den je einzelnen war außerdem sozusagen über Gebühr entfernt von dem nächsten, und bildete zu diesem und ebenso zu den sämtlichen anderen einen Winkel, der so etwas wie eine Gruppierung von vornherein nicht bloß erschwerte, sondern quasi auch untersagte. Natürlich hätten wir die Tische kurzerhand zu einer Tafel, in gleichweicher Form, als Gerade, als Diagonale, als Bogensehne, als Halbkreis, als L, zusammenschieben können. Doch dazu kannten wir den Gastgeber und seine Manie, bei sich zuhause nicht das kleinste Platzverrücken durch jemand Sonstigen zu dulden, gar zu gut: Hätte einer von uns eine seiner Sachen, sei es ein Buch, oder sei es nur ein Ziegelscherben irgendwo, um weniger als »einen halben Zoll« (in solchen Maßen drückte er sich gern aus) von seinem Platz verschoben oder dem allem einen kleinen Dreh gegeben – durch nichts war im übrigen zu erkennen, daß das »sein Platz« war –, so wäre dem unausweichlich eine Bestrafung gefolgt, in Worten, gegen die ein Auf-die-Finger-Klopfen als eine fast linde Berührung gewirkt hätte.
    Die Frau, sie führte die Bootsgäste, einen jeden für sich, an die Einzeltische, wo sie dann, mit dem Rücken zueinander oder wenigstens halb abgekehrt, in dem Muster – am Anfang jedenfalls fühlten sie so eine Befremdung – des Ausgesetzt- und

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