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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Auseinandergewürfteltseins saßen. Dieses Gefühl wurde freilich bald vergessen in unserem Umsorgtwerden durch die Unbekannte und, während sie zwischen den Tischen im ungewissen Licht ihre Kreise, Spiralen und Ellipsen zog, auf andere Weise und noch ungleich beglückender, in der Ahnung ihrer Schönheit. Längst waren wir alle ja entwöhnt jeden Bedientwerdens, und auch nicht mehr willens, es an uns geschehen zu lassen. Keinen an uns heranlassen, für sich selber sorgen! Doch von einer solchen Schönheit, oder überhaupt von der Schönheit, bedient zu werden, das konnte uns wieder gefallen. Und schön erschien uns an dieser fremden, eher schemenhaften Frau vordringlich deren Hüfte: die immerhin war, zwischen Licht und Halbdunkel, zeitweise klar zu sehen. Eine Kurve, die im Einklang war mit den Bewegungsabläufen ihres Betreuens, nein, ihres Zuvorkommens, ja, ihres Zuvorkommens. Schön erschien uns diese Hüfte? An ihr erschien uns die Schönheit. Die ganze Frau, der ganze Mensch dort konnte nur dem entsprechend schön sein. Und die Schönheit dieser Hüfte strahlte Güte aus. In der Hüftkurve fielen Schönheit und Güte zusammen. Die Hüfte der fremden Frau war, ohne einen Extra-Schwung, der Sitz der Güte.
    Frage dann, unausgesprochene, als der Bootsherr, nach seinem, im übrigen uns von den anderen Treffen vertrauten, episodischen Verschwundensein erwartungsgemäß-unerwartet sich wiedereingestellt hatte und der Frau zwischen Küche und Salon und zwischen den Tischen zur Hand ging: Er und eine Frau, wie ging das? Niemand, jedenfalls niemand von uns, seinem Umgang, seit er sich weitab von seinem Land und auch seinem früheren Wohnsitz auf dem Boot an der Morawa niedergelassen hatte, war ihm je in Gesellschaft einer Frau begegnet. Und wenn, dann hatte er sofort zu verstehen gegeben, daß er mit dieser Frau da nichts, aber schon gar nichts zu schaffen habe. Sie war nur zufällig gerade mit ihm, aus technischen, ökonomischen oder sonstwelchen Gründen, ganz unabhängig von ihrem Geschlecht. Peinlich schien es ihm, in Gesellschaft einer Frau angetroffen zu werden, und er führte dann eigens vor, wie fremd, wie gleichgültig ihm diese andere da war. Irgend jemand war das – eben ein anderer. Er rückte übertrieben von ihr ab, und wenn er sie vor uns zwischendurch ansprach, so betont geschäftsmäßig; und betont auch, und in einem fort wiederholt, die Sie-Form. Und wenn wir ihn dann verließen, richtete er es so ein, daß die Frau vor uns wegging, oder zumindest zugleich mit uns.
    Die einen von uns meinten, er habe Angst, wir könnten uns etwas denken; wolle überhaupt, abgesehen von seiner Beziehung oder Nicht-Beziehung zu einer Frau, vermeiden, daß zu seiner Person etwas zu denken wäre; vermeiden, daß wer sich ein Bild von ihm machen könne – daß je wieder ein Bild von ihm umliefe. Die anderen meinten, er habe überhaupt Angst vor Frauen. »Eine Heidenangst!« meinte einer, und ein zweiter gar: »Ein Grauen. Es graut ihm von Grund auf vor den Frauen.« Und tat nicht solch eine Angst, oder solch ein Grauen oder Grausen, buchstäblich in manchen seiner Bücher mit, auch wenn seine Autorenzeit nun schon um einiges zurücklag und die Gefühle seiner frühen Jahre doch fast verjährt waren? Und war aber nicht, wie wir anderen es vom Hörensagen wußten, seine Rundreise der vergangenen Monate durch Europa zumindest mitbestimmt gewesen vom Flüchten, und eben tatsächlich und insbesondere von der Flucht vor einer Frau, einer ganz anderen Flucht als jener, die ihn einst zum Schreiben gebracht hatte?
    Nicht, daß er mit der Unbekannten jetzt in dem Bootssalon ein Paar abgab. Aber es war etwas Eingespieltes zwischen den beiden, wenigstens solange sie sich um die Gäste kümmerten, ihnen auftischten und einschenkten. Wir waren nicht allein seine, vielmehr ihrer beider Gäste. Die zwei hatten offenbar etwas erlebt, das sie zusammengebracht hatte. Nur was? Klar auch, daß es nicht bloß das Erlebnis eines Augenblicks gewesen war – nichts Kurzes. Und wenn kurz, wenn bloß ein Augenblick, dann in einer anderen Zeitform, wo weder Kürze noch Länge in Kraft waren, und statt dessen etwas Drittes. Als Komplizen wohl zeigten sie sich in jener ersten Stunde der Nacht auf dem Boot, da vor allem gespeist und getrunken wurde, und noch fast nichts geredet, geschweige denn erzählt. Daß die fremde Frau, mitsamt der Geruhsamkeit in ihren Auftritten durch die Küchenschwingtür und in ihren Bewegungen hin und her, kreuz und quer

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