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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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zwischen den durcheinanderstehenden Einzeltischen, etwas Tänzerisches hatte: nichts Selbstverständlicheres. Aber daß auch der Mann, ob vor, neben oder hinter ihr, dabei mittat, dazugehörte, so etwas wie ihr Tanzpartner war – und nicht nur so wirkte –, und gerade dieser Mann: das war dann doch zum Verwundern. Zwar waren sie grundverschieden gekleidet, er (wenn das Wort überhaupt noch etwas bezeichnete) eher »westlich«, und sie, schwach zu erahnen, eher »balkanisch«. Und trotzdem sah man einen jeden in einem auf den andern abgestimmten Kostüm. Eine Frau und er sich selbstverständlich ergänzend: das hätte ihm niemand von uns zugetraut. Und noch weniger, er könnte, wie es nun den Anschein hatte, einer Frau eine Heimstatt geben. Und der eine oder andere zweifelte weiter, nachtlang.
    Und was gab es zu essen? Da es für ein Osterlamm noch zu früh war: Was sonst als Waller und Hechte aus der Morawa, dazu Salate hauptsächlich aus Kraut, dem Kupus , vermischt mit Kümmel, und die Kartoffeln gebacken in der Holzglut des Kamins, und vorher die Sülze, Piktija, , vom Fisch und auch von Wildhasen, dazu das Fladenbrot, frisch gebacken, und danach den Schafskäse von den auf den Hügeln hinter Porodin himmelan weidenden Schafen, beträufelt mit dem montenegrinischen Olivenöl, das, dank Europa, seinen früheren Geschmack nach ranzigem Motorenöl ganz losgeworden und, so das Etikett auf der Flasche, als »toscanissimo« einzustufen war. Und zu trinken gab es die Weine der südlichen Morawa-Ebenen, die von Kruševac , Aleksinac und vor allem Varvarin, inzwischen längst in burgundischem, niederösterreichischem und kalifornischem Besitz, die aber gleichwohl ihre alten Namen hatten beibehalten dürfen: »Smaragd«, »Rubin«, »Onyx«, »Auspuff«, »Markthalle«, »Melancholija«, »Brückenmost«, selbst der noch weiter südlich, fern der Morawa, im früheren Kosovo Polje angebaute, allgemein als »bordeauxreif« etikettierte Wein hieß immer noch »Amselfeld«. Nur den »Rakija«, den einst einheimischsten der Schnäpse, gab es nicht mehr, jedenfalls nicht als Namen: Doch Schnäpse sollten in jener Nacht ja auch keinesfalls getrunken werden.
    In einem gewissen Augenblick hatte sich der Einlader dann zu uns anderen gesellt und, auch er an einem Tisch für sich allein, mit uns genachtmahlt. Die fremde, vertraute Schönheit dagegen blieb, Überbleibsel der sonst fast verschwundenen balkanischen Sitten, in der halbdunklen Bordküche, außer später für das stumme Abräumen. Durch das Bullauge in der Küchentür ließ sie sich für den, der sich von seinem Platz erhob, erahnen, wie sie, alle Arbeiten getan, gleichermaßen stumm dort hinten in der Nische neben dem Herd saß, auf einem Hocker ohne Lehne, reglos, wenn auch ganz und gar nicht starr; still die Hände im Schoß. Unser Bootsherr aber war bald nach dem Ende der Mahlzeit aufgestanden und hatte begonnen, in dem Salon auf und ab zu gehen. In dem Durcheinander der Tische war ein Geradeaus kaum möglich, und so bewegte er sich in Schlangenlinien, zuerst ungleichmäßigen, später gleichmäßigen, zuletzt einer immergleichen, hin und zurück, hin und zurück. Es war, als wolle er mit seinem Auf und Ab nie mehr aufhören. Außerdem hatte er vorher sämtliche Türen und Fenster des Salons geöffnet, und mit der Zeit wurde uns anderen gehörig kalt.
    Auch als er die Räumlichkeit endlich nach seinem Gutdünken gelüftet hatte, setzte er sein Gehen zunächst fort – bloß daß er jetzt rückwärts ging, rückwärts flußauf, rückwärts flußab. Schon schien er sich zuguterletzt niederlassen zu wollen – nur hatte sich ihm ein Schuhband gelöst, und nachdem er es verknotet hatte, machte er sich erneut für eine Zeitlang auf den Weg, rückwärts auf und ab, so als habe das, unbedingt, zu geschehen. Und ein zweites Mal saß er bereits – als ein Holzscheit in dem Kamin, nein, nicht etwa explodierte, sondern, wohl noch nicht ganz durchgetrocknet, zu sirren und zu sieden anhob, Geräusche, die an ein Winseln oder Wimmern erinnerten. Und beim dritten Mal saß er nicht nur, sondern setzte sich schon aufrecht, wendete derart den Kopf zu den nächtlichen Horizonten und zugleich zu der Runde, schöpfte tief Luft – als an einem von uns, nein, nicht etwa das Mobiltelefon losschrillte, ja, nicht einmal der Magen knurrte (wie denn auch nach solch einem Nachtmahl), sondern bloß so ein Atmen vernehmbar wurde, ein sehr, sehr leises, ein sich auf das reine Lauschen einrichtendes

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