Die Mordaugen von Brüssel
rasch wie möglich nach Brüssel zu kommen und Sie mitzubringen. Die Bauleitung kann jeden Tag auf die Idee kommen, dieses alte Versteck wieder zuzuschütten.«
Ich lächelte schmal. »Zum Glück haben sie damit gewartet. Es war auch gut, daß Sie uns gerufen haben.«
»Fragt sich nur, wie es weitergeht?«
»Wir werden uns das Atomium näher anschauen müssen«, meinte Bill und deutete zum Ausgang. »Sollen wir hier verschwinden?«
»Meinetwegen.«
»Und die Platten?«
»Lassen wir hier«, sagte ich.
Dagegen hatten die beiden anderen nichts. Noch ein letztes Mal leuchtete ich die alte Inschrift an. Wie ein geisterhafter Totenschein glitt der bleiche Lichtkegel über das Gestein. Ich hatte das Gefühl, als würden die Buchstaben der Reihe nach aufleuchten, um mir einen Gruß zu senden.
Bill und Maurice waren schon vorgegangen. Geduckt und schattenhaft tauchten ihre Gestalten in den Gang ein, der uns wieder ins Freie führte. Auch ich folgte ihnen und vernahm ebenfalls das dumpfe, unheimlich klingende Rattern.
Wir blieben stehen, schauten uns gegenseitig an und blickten auch zur Gangdecke hoch.
»Verdammt, was ist das?« flüsterte Reuven. »Stürzt etwa die Höhle ein?«
Ich hob die Schultern.
Staub wallte uns entgegen. Er vernebelte die Sicht, wir mußten husten.
»Das kommt von vorn«, sagte Bill und lief schon los. Da der Gang einen Knick machte, mußte er sich um die Ecke winden und blieb, wie vom Donner gerührt, stehen.
Wir sahen das Ende, diesen hellen Ausschnitt, nur mehr zur Hälfte. Der andere Teil wurde von der breiten Schaufel eines Baggers allmählich zugeschüttet.
Es gab keinen Zweifel.
Man wollte uns lebendig begraben!
***
Der Chef vom Dienst schaute Ruth Reuven prüfend an. »Sie sehen schlecht aus, meine Liebe.«
Ruth lachte auf. »Ist das ein Wunder, nach einer Zwölf-Stunden-Schicht? Und das ist noch nichts.«
»Wann gehen Sie nach Hause?«
»Jetzt.«
»Gut, ruhen Sie sich aus. Sie haben es verdient.«
»O danke.«
Der Chef vom Dienst verließ das Büro wieder. Die Glastür fiel hinter ihm ins Schloß.
Ruth teilte sich den Raum normalerweise mit vier anderen Kollegen. Im Moment war sie allein im Büro. Die Redakteure waren zu einer Konferenz gebeten worden. Aus dem Automaten hatte sich Ruth noch einen Becher Kaffee gezogen.
Sie wußte nicht einmal, der wievielte es war. In der Nacht hatte sie sich nur durch das Trinken der braunen Brühe wachhalten können. Auch jetzt schluckte sie das bittere Zeug. Sie bekam den Geschmack schon nicht mehr aus dem Mund, hinzu kamen noch die Zigaretten und das allmähliche Nachlassen der Konzentration. Die lange Zeit forderte ihren Tribut. Die Müdigkeit war da und ließ sich einfach nicht vertreiben. Auch nicht durch den stärksten Kaffee.
Ruth öffnete die auf dem Tisch liegende Handtasche und holte einen viereckigen Spiegel hervor. Darin betrachtete sie ihr Gesicht. Ringe lagen unter den Augen. Da sie die helle Haut von ihrem Vater geerbt hatte, fielen die dunkleren Halbkreise besonders auf. Ihre Lippen wären blaß, die blaugrauen Augen blickten müde, und das rotblonde Haar hing strähnig zu beiden Seiten des Gesichts nach unten. Du hast auch mal besser ausgesehen, dachte sie und ließ den Spiegel wieder verschwinden.
Ruth war keine Schönheit, die auf die Titelseite irgendeines Modemagazins gepaßt hätte. Sie gehörte zu den normalen Menschen und jungen Frauen, wie es sie zu Hunderttausenden gab. Sie hatte die gleichen Träume, Ideale, Hoffnungen wie andere Frauen und auch den gleichen Ärger mit ihrer Beziehungskiste zu Piet, ihrem Freund aus Antwerpen, der unbedingt für eine Weile aussteigen wollte und sich deshalb von ihr getrennt hatte.
Es war ein Grund für Ruth gewesen, sich voll in ihren Job zu stürzen und auch wieder enger mit ihrem Vater zusammenzuarbeiten, bei dem sie seit einigen Jahren lebte, nachdem ihre Mutter sie wegen eines anderen verlassen hatte.
Der Job ihres Vaters gefiel ihr. Ein Rechercheur alter Schule, der überall seine Beziehungen besaß und mit seinem Geld ganz gut über die Runden kam.
Vor dem letzten Fall allerdings fürchtete sich Ruth. Da hatte sich ihr Vater auf ein Gebiet begeben, das ihr überhaupt nicht schmeckte. Sie konnte es mit dem Begriff Schwarze Magie umschreiben, düstere Prophezeiungen, Todeshysterie, Apokalypse und so weiter. Daß er sich die Ereignisse nicht aus den Fingern gesaugt hatte, war ihr, der Zeugin, klar. Auch sie hatte die Augen in den Kugeln des Atomiums gesehen und
Weitere Kostenlose Bücher