Mord an der Leine
EINS
Die tief liegenden Wolken hüllten die Stadt in ein
düsteres Grau. Wo sonst eine farbenfrohe Schaufenstergestaltung, ein
blumengeschmückter Balkon oder das aufreizende Bunt der nachsommerlichen
Frauenkleidung dem Auge einen Anhaltspunkt bot, deckte der kräftige Landregen
heute alles zu. Kaum jemand hatte sich auf die Straße getraut. Wer konnte,
blieb in den eigenen vier Wänden.
Stoßstange an Stoßstange tasteten sich die Fahrzeuge
Richtung Innenstadt. Handwerker, gewerbliche Arbeitnehmer und ein paar
unentwegte Büroangestellte hatten ihren Arbeitsplatz erreicht. Der Rest saß in
seinem Wagen, plierte durch die regennasse Windschutzscheibe und erfuhr den
ersten Stress des Tages, der die Menschen unweigerlich erfasste, wenn ein
simpler Regen den Strom der Autos noch zäher fließen ließ, als es der
morgendliche Berufsverkehr in Hannovers Innenstadt ohnehin nur zuließ.
Gerlinde Scharnowski zog die Nase kraus. Ihr graues
Haar hatte sie mit einer durchsichtigen Regenhaube aus Plastik geschützt. Über
den Schultern hing das leichte Regencape. Die dunkle Stoffhose wies an der
Rückseite schmutzig graue Regenspritzer auf, während die Füße in Schuhen mit
Gummisohlen steckten.
Der Regen war über Nacht gekommen. Noch am Vortag hatte
sie mit ihrem Mann Hubert bis zum frühen Abend auf dem Balkon gesessen und die
immer noch kräftige Septembersonne genossen. Auch der unangenehme Regen hielt
sie nicht von ihrem allmorgendlichen Ritual ab. Beim Bäcker hatte sie die drei
Brötchen gekauft, die sich die beiden alten Leute zum Frühstück teilten. Dann
war sie zum kleinen Zeitungsladen gegangen, um die Hannoversche Allgemeine und
die Bildzeitung zu kaufen. Seit beide vor vielen Jahren in den Ruhestand
gegangen waren, gehörte das schweigsame Zeitunglesen, zu dem das Morgenmahl
eingenommen wurde, zu ihren lieb gewonnenen Gewohnheiten.
»Bring ein paar Stumpen mit«, hatte ihr Hubert aus dem
Badezimmer hinterhergerufen und dabei sein mit weißem Rasierschaum verziertes
Gesicht durch den Türspalt gesteckt. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Hubert verwandte für Zigarillos immer noch den von seinem Vater übernommenen
Begriff »Stumpen«.
Sie hatte ein paar Worte mit Hassan, dem Betreiber des
Zeitungsladens gewechselt. Jahrzehnte hatte die Familie Schiller das Geschäft
betrieben, zunächst die Alten, dann hatte die Tochter den Laden übernommen.
Irgendwann hatte die an Hassan verkauft. Und mittlerweile hatten sich auch die
älteren Menschen des Viertels an den stets gut gelaunten Mann aus Afrika
gewöhnt.
»So ein Schietwetter«, schimpfte Gerlinde Scharnowski,
als sie auf die Straße trat.
»Das bleibt nicht so«, sagte Hassan hinter ihrem
Rücken. »Bis Mittag hört das auf. Bestimmt.«
»Bis morgen«, rief sie dem Zeitungshändler zu und
erschrak, als eine Frau dicht an der Hauswand entlanglief und sie anrempelte.
»Was ist denn mit der los?«, schimpfte Gerlinde
Scharnowski. »Die hat sie wohl nicht mehr alle beieinander.«
»Die kenne ich«, antwortete Hassan ungefragt. »Die
Frau arbeitet gleich hier nebenan. Beim Italiener.«
»Der mit den Lebensmitteln?«
»Genau der.«
»Da habe ich noch nie eine Konservendose gesehen«,
stellte Gerlinde Scharnowski energisch fest.
»Ist ein Großhändler«, erklärte Hassan. »Der muss sein
Lager woanders haben. Die Frau ist seine Sekretärin.«
»Hat der noch mehr Leute?«
»Ich habe noch keinen weiteren gesehen.«
»Wirklich komisch. Was machen die denn nur, ich meine
– so zu zweit?«
Hassan lachte. »Das dürfen Sie mich nicht fragen.«
»Warum rennt die durch den Regen? Ohne Jacke und ohne
Schirm. Die flüchtet wohl vor ihrem heißblütigen Chef. Man hört ja so einiges
von den Italienern. Das sollen ja alles Casanovas sein.«
»Ja, ja«, pflichtete Hassan ihr bei. Er hatte sich
angewöhnt, zu vielen von seinen Kunden geäußerten Meinungen in dieser Weise zu
antworten. Das entband ihn von einer ausführlichen Stellungnahme und verärgerte
nicht die von Jahr zu Jahr weniger werdenden Stammkunden.
»Die habe ich schon ein paar Mal gesehen«, meldete
sich ein älterer Mann aus dem Hintergrund des Zeitungsladens und trat zu
Gerlinde Scharnowski und Hassan. Ein dunkler Schatten lag auf seinen
eingefallenen Wangen. Eduard Scheer nuckelte vorsichtig an seinem Flachmann.
Viele Bewohner des Viertels nannten den Frührentner, der nach einem Arbeitsunfall
das linke Bein leicht hinterherzog, Schluck-Ede. »Ist eine ganz Flotte. Aber da
kommt
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